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Welt-AIDS-Tag – eine gute Gelegenheit, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen

Text: MarisaKurz

Ich bin davon überzeugt, dass viele Menschen zum Thema HIV und AIDS in unserer „westlichen“ Welt insgeheim einen konkreten Gedanken denken: „Selber schuld.“



Denn HIV wird vor allem durch ungeschützten Geschlechtsverkehr übertragen - oder durch Nadeln. Wer sich nicht anstecken will, soll nicht rumvögeln und nicht drogenabhängig werden. Ganz einfach.



Viele äußere Umstände bringen uns in Situationen, in denen wir uns selbst schaden und aus denen wir uns schwer befreien können. Wir alle kennen solche Situationen. Wenn unser Mitgefühl konsequent davon abhängen würde, ob jemand „selbst schuld“ an seinem Zustand ist, dann würden die meisten von uns alleine dastehen. Und gerade weil wir das wissen, setzen wir uns in unzähligen Situationen für diejenigen ein, die ihre Krankheiten und Verletzungen selbst verschuldet haben: Wir trauern um Lungenkrebspatienten, holen Wanderer mit Hubschraubern von Bergen, weinen ertrunkenen Surfstars nach oder sind schockiert über schreckliche Skiunfälle. Dabei treffen etwa Raucher Jahrzehnte lang täglich bis zu über 20 mal ganz bewusst die Entscheidung zu rauchen. Und etwa 40% aller Krebserkrankungen gelten heute als vermeidbar und auf den Lebensstil der Erkrankten zurückführbar – vor allem auf die Faktoren Bewegung und Ernährung. Und Übergewicht wird bald das Rauchen vom Thron der vermeidbaren Todesursachen stürzen.



In so vielen Situationen haben wir Verständnis für diejenigen, die für ihren Zustand mitverantwortlich sind. Dass es beim Thema HIV nicht in Wirklichkeit um Vorurteile gegenüber Schwulen, gegenüber Drogenabhängigen, gegenüber Menschen mit wechselnden Sexualpartnern oder Prostituierten geht (und wenn es um AIDS in Afrika geht, auch um Vorurteile gegenüber den Menschen dort), kann ich mir kaum vorstellen. Und obwohl wir überall von Pornographie bombardiert werden, ist Sex doch noch anstößig genug, um eine sexuell-übertragbare Erkrankung "peinlicher" oder "schlimmer" zu finden, als einen Skiunfall. Alles Schlechte, das wir uns selbst zufügen, ist auf irgendeine Art bescheuert - und auf eine andere eben nicht, weil Menschen nun mal Dinge tun, die ihnen schaden. Unser Mitgefühl sollte in keinem Fall davon abhängen, wie sehr wir uns persönlich mit einer Geschichte identifizieren können. Zumindest eines verbindet uns alle: Menschen sind manchmal unvernünftig und destruktiv. Wir sollten HIV-infizierten das Mitgefühl und Verständnis entgegenbringen, mit dem wir anderen und uns selbst in ähnlichen Situationen begegnen. Wir sollten sie unterstützen und vor allem eines tun: sie behandeln wie jeden anderen auch.



Ein anderes Vorurteil, das wir heute überdenken sollten, ist, dass HIV-Infizierte Gesunde im Alltag gefährden können. HIV ist nur über Körperflüssigkeiten wie zum Beispiel Blut oder Sperma übertragbar. Von einem HIV-Infizierten geht keinerlei Gefahr für die Bevölkerung aus. Wir können Infizierte küssen, sie in den Arm nehmen, in ihrem Bett schlafen, mit ihnen kochen und aus ihrem Glas trinken. Wir können sie so behandeln, wie wir es eigentlich ganz selbstverständlich tun sollten: ganz normal. Menschen, die von ihrer HIV-Infektion wissen und antivirale Medikamente einnehmen, haben sogar so wenige Viren im Körper, dass sie andere nicht mehr anstecken und sogar ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem nichtinfizierten Partner haben können. HIV-infizierte Frauen können während der Schwangerschaft Medikamente einnehmen und gesunde Kinder zur Welt bringen. Mit den heutigen Medikamenten haben HIV-positive eine normale Lebenserwartung und können ein vergleichbar normales Leben führen - abgesehen von den teilweise sehr schweren Nebenwirkungen der Medikamente. Leider wissen viel zu wenige Menschen über diese Dinge Bescheid.



Was für Betroffene heute am schlimmsten ist, ist nicht mehr unbedingt die Erkrankung selbst - sondern das Stigma. Stellt euch vor, ihr müsstet eurem Umfeld erzählen, dass ihr HIV positiv seid. Stellt euch vor, ihr müsstet eurem Umfeld erzählen, dass ihr Krebs habt. Würde das einen Unterschied machen? Warum eigentlich? Und warum ändern wir das nicht?



Während in unserer Kultur vor allem das Stigma HIV den Betroffenen zu schaffen macht, sollten wir uns heute auch daran erinnern, dass wir wenigstens das Glück haben, dass uns HIV-Medikamente zur Verfügung stehen. Tatsächlich leben die meisten HIV-Infizierten auf der Welt in Ländern, in denen das nicht der Fall ist. Unbehandelt bricht bei Infizierten irgendwann AIDS aus. Wir sehen das Vollbild AIDS in Deutschland heute kaum noch, Filme wie Philadelphia oder Dallas Buyers Club geben vielleicht eine Idee, wie so ein Vollbild aussieht. Wir sollten heute selbstverständlich auch an diese Menschen denken. Viele Organisationen setzen sich für die Behandlung Infizierter in armen Ländern ein, gegen die Diskriminierung von HIV-Patienten und unterstützen die Forschung im Kampf gegen HIV. Vielleicht ist heute ein guter Tag, um eine dieser Organisationen zu unterstützen und zu zeigen, dass wir wissen, wie gut wir es eigentlich haben und uns wünschen, dass es anderen genauso gut geht.

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