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Maronen für Opa

Text: johalosie







Mein Großvater hat Maronen geliebt. Sonntags hat er immer eine Tüte voll davon gekauft, sich auf eine Parkbank gesetzt und eine ganze Weile lang nichts anderes getan, als essen, gelegentlich seufzen und immerzu lächeln. So als ob er keine Sorgen hätte im Leben. Er aß sehr langsam, aber aus irgendeinem Grund habe ich ihm immer gern dabei zugesehen. Ich glaube es lag daran, das er dabei so vollkommen zufrieden aussah. Oft hielt er mir seine Tüte hin und manchmal nahm ich tatsächlich eine Marone und aß sie. Sie haben mir nie geschmeckt, aber die unglaubliche Zufriedenheit meines Opas an diesen Tagen war für mich irgendwie mit der dampfenden Tüte verbunden und so konnte ich von Zeit zu Zeit einfach nicht widerstehen. Er war mein Lieblingsopa.



Ich mag bis heute keine Maronen. Trotzdem habe ich mir eine Tüte gekauft. Ich glaube, ich hielt es für einen Wink des Schicksals, dass am Eingang zum Friedhof heute ein Maronenverkäufer sein Ständchen aufgebaut hatte. Ich nehme eine der warmen Kastanien aus der Tüte und drücke sie neben dem Baum in die feuchte Graberde. Früher hatte ich nie echte Maronen dabei, nur ganz normale Kastanien. Einen ganzen Herbst über habe ich jeden Sonntag eine Kastanie zwischen den Blumen auf dem Grab versteckt. Und heute steht hier ein Baum.



Ich erinnere mich daran, das wir eine Zeit lang gemeinsam gewachsen sind, ich und der Baum. Aber er war schon immer schneller gewesen als ich. Dieser Baum auf dem Grab meines Großvaters, war für mich immer ein Zeichen für neue Hoffnung. So hat er mir damals geholfen, über den plötzlichen Tod meines Lieblingsopas hinwegzukommen. Gleichzeitig hat er dafür gesorgt, dass ich ihn nie vergesse.



Ich schlendere langsam über den Friedhof nach Hause, kaue auf einer Marone herum und glaube, dass sie anfängt mir zu schmecken. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Gedanken über meinen Großvater, Kastanien, mein Leben und das Wetter kreisen in meinem Kopf. Und plötzlich muss ich lächeln. Ich glaube ich habe meinen Opa nie so sehr verstanden wie jetzt.



Zu Hause wartet mein Sohn mit meinem Enkel auf mich. Er heißt Thomas und ist sechs Jahre alt. Bald ist sein erster Schultag. Ich bin jetzt sein Opa und ich gebe mir alle Mühe, sein Lieblingsopa zu sein. Ich frage ihn, ob er eine Marone probieren möchte. Er nimmt eine, steckt sie in den Mund und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. “Voll eklig!”, ruft er mit vollem Mund. Ich fange an zu lachen und dadurch muss auch er lachen. Ein paar Stückchen Marone fliegen aus seinem Mund auf den Boden und ich bücke mich, um sie aufzuheben und wegzuwerfen.



Als ich wieder hochkomme spüre ich mit einem Mal ein leichtes Zwicken in der Brust. Ich versuche zu lächeln und bitte Thomas, mir ein Glas Wasser zu holen. Ich setze mich auf einen Stuhl, massiere mir die Brust und atme tief durch. Ich bin alt. Vielleicht wächst bald auf meinem Grab ein neuer Baum. Ich schließe die Augen und lächle. Vollkommen zufrieden.

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