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Getrennte Wege

Text: Tobusch
Es ist ein heißer Sommertag im August. Wir haben uns in einem Café verabredet, ein Gespräch auf neutralem Boden soll es werden. Mir hast du auch nur gesagt, dass du mit mir sprechen möchtest, nicht worüber. Aber natürlich kann ich es mir denken: du willst dich von mir trennen – soweit das eben geht. Trotzdem bin ich relativ entspannt, als ich dich da nervös, an deinem Handy spielend vor den Sonnenschirmen in der Fußgängerzone stehen sehe. Vor einem Jahr hattest du das ja schon einmal versucht. Damals konnte ich dich relativ schnell davon überzeugen, dass das eine bescheuerte Idee ist. Dann mache ich das heute eben wieder, denke ich mir, setze ein gezwungenes, unbedarftes  Lächeln auf und gebe dir die Hand. Du begrüßt mich distanziert, versuchst souverän zu wirken, machst dafür aber zu hektische Bewegungen und lotst mich direkt zu einem Tisch im Schatten der Biergarten-Schirme. Die Spannung liegt in der Luft, die anderen Café-Besucher schauen uns an, ordnen uns ein. Vielleicht halten sie uns für ein schwules Pärchen mit Beziehungsproblemen. Wie Brüder sehen wir schließlich nicht aus, dafür sind wir viel zu unterschiedlich. Aber gerade das fand ich immer das Besondere an uns. Zwei völlig unterschiedliche Menschen mit völlig unterschiedlichen Interessen, die aber diese tiefe, unerschütterliche Verbindung haben, die es eben nur bei Geschwistern gibt, die ihr ganzes Leben füreinander da waren. Heute willst du diese Verbindung kappen. Oder du sollst sie kappen. Denn alles was du sagst und machst wirkt nicht so wirklich nach deiner eigenen Entscheidung, dafür kenne ich dich zu gut.

Du versuchst es erst mal mit Small-Talk. Viel zu heiß ist es, die Sonne sticht unangenehm, sagst du, und rückst deinen Stuhl etwas mehr in den Schatten. Die Sonne hast du noch nie vertragen, das weiß ich. Schon als Kind warst du nach 5 Minuten am Strand krebsrot. In der Hinsicht hattest du schon immer unheimlich Pech. Du verträgst keine Milchprodukte, bist auf Tierhaare und Pollen allergisch und wo andere eine leichte Erkältung bekommen, liegst du gleich zwei Wochen flach. Trotzdem bist du für mich immer noch mein großer, starker Bruder. Der Typ, mit dem ich anderen aus meiner Klasse gedroht habe, wenn sie mir blöd kamen. Dieser Typ ist jetzt 36 und bestellt sich – wie schon immer – eine Apfelschorle und fordert mich auf, mir auch was zu bestellen, das geht auf dich. Vielleicht aus schlechtem Gewissen, weil du schon weißt was kommt, oder eben, weil du mein großer Bruder bist und für den Kleinen sorgst. Ich bestelle mir auch eine Apfelschorle. In Erinnerung an die Sommer in unserer Kindheit, als wir im Garten saßen und Du immer für eine große Kanne Apfelschorle mit Eiswürfeln gesorgt hast. Immer. Und ich habe das geliebt. Und ich erinnere mich an ein Gespräch mit Papa, als er mir erzählt hat, dass es immer sein Traum war, mit seinen beiden Jungs im Garten zu sitzen und ein Bier zu trinken. Das haben wir nie gemacht, du magst kein Bier. Und wir werden es nie machen, denn mich magst du jetzt auch nicht mehr. Bzw. du würdest sagen, du magst mich so sehr, dass du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben möchtest. Aber soweit sind wir noch nicht.
Gerade fragst du mich nach meinem Job aus, was es da so Neues gibt. Du hast anscheinend nicht so viel Spaß bei der Arbeit, du hast viel Stress und Dienstreisen in die USA und nach Brasilien sind dir überhaupt viel zu stressig, erklärst du mir. Bei jedem anderen hätte ich das für verlogene Angeberei gehalten, bei dir weiß ich aber, dass deine Stressschwelle weit unter dem Durchschnitt liegt. Eigentlich ist dir alles zu viel, was vom Alltag abweicht. Du folgst gerne einer Norm, brauchst feste Konstanten im Leben. So ist es uns ja auch von Geburt an eingetrichtert worden. Zeugen Jehovas führen ein Leben in festgelegten, sicheren Bahnen.
Letztes Jahr habt ihr ein renovierungsbedürftiges Haus gekauft, so eine Baustelle, bei der man täglich ran muss, damit sie fertig wird. Nach vier Wochen hast du die Einsatzzeiten auf Samstags beschränkt. Nach der Arbeit ist es dir zu viel und den Sonntag brauchst du zur Erholung. Nicht weil du faul bist, sondern einfach nicht so belastbar wie andere Menschen. Zum Glück ist Papa inzwischen Rentner, er hat’s gerichtet und an den Samstagen bin ich ja auch noch dazu gekommen. Jetzt ist das Gröbste geschafft und du kannst dich anderen Baustellen zuwenden. Die Schwester deiner Frau heiratet demnächst. Das wird auch stressig, sagst du.
Und dann kommst du zu deinem Thema.
Du hast dir das alles sehr lange überlegt und es würde dir wirklich schwer fallen aber die Entscheidung ist klar und irgendwann würde ich auch verstehen, dass du Recht hast. Wir können uns nicht mehr sehen.
Die Unterhaltung am Nachbartisch stockt. Das ältere Pärchen sieht uns erschrocken an. Sie halten uns jetzt mit Sicherheit für schwul.
Ich bleibe immer noch ruhig, denn an diesem Punkt waren wir schon einmal. Letztes Jahr an einem Samstag. Ich hatte den ganzen Tag auf dem Speicher eures Hauses gearbeitet, einen neuen Holzboden über den alten Zwischenboden aus Lehm und Stroh gezogen. Ich war komplett schwarz vom Ruß aus dem alten Schornstein und völlig k.o. vom gebückten Arbeiten, als ich erschrocken vor dir stand. Du hattest mich noch raus auf die Straße zu meinem Auto begleitet, dich für meine Hilfe bedankt und mir dann erklärt, dass ich ab jetzt nicht mehr wieder kommen könnte. Die Bibel gebe klare Richtlinien vor, wie man sich gegenüber Menschen wie mir zu verhalten hätte. Und du wolltest nicht mehr gegen diese Richtlinien verstoßen. Auch damals klang es, als hättest du dein Sprüchlein schön auswendig gelernt und vorgetragen. Aber damals hattest du Tränen in den Augen. Heute nicht.

Damals hatten wir über eine Stunde draußen auf dem Bürgersteig gestanden und diskutiert. Damals konnte ich dich überzeugen. Ich habe dir klar gemacht, dass ich – nur weil ich nichts mehr von der Bibel wissen möchte – kein Zeugen-Jehovas-Gegner bin. Deine Augen haben damals geleuchtet, als ich dir beschrieben habe, wie ich vor kurzem erst ein paar Redaktions-Kollegen von meiner Kindheit bei den Zeugen Jehovas erzählt habe. Denen hatte ich erklärt, dass die Zeugen einfach nur gute Menschen sind, die Gutes tun wollen. Sie opfern ihre Freizeit, um Menschen von ihrem Glauben zu erzählen, weil sie der festen Überzeugung sind, dass sie ihnen dadurch das Leben retten. „Für die ist das, als würdest du gerade mit einer Herzattacke auf der Straße liegen, aber die Klingel an deiner Haustür ist der Defibrillator“, hatte ich gesagt. 
Meine Kollegen waren damals überrascht, sie hatten viel mehr Negatives von einem Sektenaussteiger erwartet, irgendwelche Gehirnwäsche-Horrorstories oder so. Aber die hatte ich nicht zu bieten. Meine Horrorstory kommt ja gerade erst.
Bei unserem letzten Gespräch hatte meine komplett positive Haltung gegenüber den Zeugen noch seine Wirkung bei dir gezeigt. Damals schienst du sogar erleichtert zu sein, einen klaren Grund gegen die sofortige Verbannung deines Bruders aus deinem Leben zu haben.
Heute mache ich dir das wieder klar. Ich habe immer noch kein schlechtes Wort über Zeugen Jehovas verloren, ich rede immer nur gut über sie und letztens, als es mal wieder um die Anerkennung als Körperschaft des Öffentlichen Rechts ging, da habe ich sogar eine positive Berichterstattung in der Redaktion durchgeboxt. Ein paar Millionen Menschen haben dank mir ein schöneres Bild von Zeugen Jehovas bekommen, als es eigentlich ist. Als aktiver Zeuge wäre ich damit so eine Art Superwachtturmman. Aber ich bin ja nicht aktiv, deshalb nimmst du es nur zur Kenntnis und erklärst mir in einem ruhigen, aber bestimmten Ton, ich könnte ja einfach bereuen und wieder zurückkommen. Dann wäre alles wieder gut. Für dich ist das ein einfacher, logischer Schritt, den man eben geht, wenn man Mist baut. Kein Ding eigentlich. Was das für mich bedeutet, ignorierst du einfach, vielleicht ist es dir auch wirklich nicht bewusst. Es geht ja deiner Meinung nach ausschließlich um das was Gott will – und das hat nun mal absolute Priorität. Was du in deinem nett verpackten Satz so leichtfüßig sagst, heißt aber im Klartext: trenne dich sofort von der Frau, die du seit Jahren über alles liebst. Wirf dein in den letzten Jahren mühsam aufgebautes glückliches, freies Leben komplett über den Haufen und unterordne dich den Regeln und Lebensentwürfen einer amerikanischen Religionsgemeinschaft, die dir genau sagt: Was gut und was schlecht ist. Welche Menschen die Wahrheit sagen und wer grundsätzlich lügt. Womit du deine Freizeit verbringen sollst und womit nicht. Was du feiern darfst und was nicht. Was beim Sex ok ist und was nicht. Mit wem du reden solltest und mit wem nicht. Welche Bücher du lesen solltest und welche nicht. Welche Filme oder welche Musik nicht gut für dich ist. Welcher Job gut ist und welcher nicht. Ich soll zurück in eine schwarz-weiß Welt. Ich soll alle freien Entscheidungen in meinem Leben an eine Gruppe von alten Männern abgeben, die behaupten, als einzige Menschen wirklich zu wissen, was tatsächlich in der Bibel steht.
Nur würdest du das niemals so sehen. Denn die Entscheidung, was du am Ende tust liegt ja immer bei dir. Du empfindest es als „freien Willen“, dass du theoretisch auch Dinge tun kannst, die schlecht für dich sind. Nur tun Menschen normalerweise keine Sachen, die ihrer Meinung nach schlecht für sie sind. Und ob es wirklich so schlecht für dich ist, deinen Bruder in deinem Leben zu lassen, hinterfragst du nicht. Das ist für dich ein klarer Fakt, der unwiderruflich zu diesem Gespräch hier führt. Die alten Männer sagen das und alles was sie sagen stimmt auch. Sie irren niemals. Aber natürlich entscheidest du diesen Schritt hier selbst, du glaubst ja tatsächlich, du würdest frei denken.
Du unterbrichst deinen Vortrag über die biblischen Hintergründe zu deiner Entscheidung kurz, um etwas zu trinken. Du musterst nur mich dabei, die Umgebung scheinst du ausgeblendet zu haben und redest mit fester Stimme weiter. Sonst machst du das nie. Deine Stimme bricht dir eigentlich immer weg, du kommst ins kieksen. Das hat dich schon immer genervt, war aber lustig für Andere, vor allem wenn du lachst, muss man durch das Kieksen automatisch immer mit lachen. Ich mag das an dir. Aber heute bist du nur ernst und erklärst mir, dass es dir um Verantwortung geht. Du trägst die Verantwortung für deine Frau und dich und du könntest deshalb nicht riskieren, dein gutes Verhältnis zu Jehova zu verlieren. Sein „gutes Verhältnis zu Jehova zu verlieren“ ist Zeugensprech und bedeutet im Ergebnis: in Harmagedon – dem Weltuntergang – wird man von Gott getötet.
Du hast also Angst. Schlicht und ergreifend Todesangst. Und ich bin in deinen Augen möglicherweise Schuld an deinem baldigen Tod.
Bis hier hin hat deine feste Stimme gereicht, das war also alles vorbereitetes Terrain. Ich bin beeindruckt, dass du es so lange durchgezogen hast, ohne auf deine Umgebung zu achten. Denn so unterschiedlich wir beide immer waren, eins hatten wir gemeinsam: wir haben es gehasst, uns in der Öffentlichkeit als Zeugen Jehovas zu erkennen zu geben. Das sollte bloß keiner mitbekommen. Aber inzwischen scheint dir das egal zu sein, soll doch das ganze Café wissen, dass du der einzige hier bist, den Gott mag.
Jetzt bin ich wohl dran. Du machst eine Pause und schaust mich erwartungsvoll an. Soll ich jetzt ernsthaft sagen „Klar, du hast recht, du verdienst getötet zu werden, wenn du mich so akzeptierst, wie ich bin.“?
Ich versuche es wieder mit meiner „Leben und leben lassen“-Tour, nur eine Spur härter. Ich rede von faschistoiden Methoden, die schon die Nazis und die Sozialisten in der DDR angewandt haben. Sie haben festgelegt, was richtig und falsch ist und anders denkende aus dem System „ausgeschlossen“ (ehemalige Zeugen Jehovas werden von aktiven Zeugen als „Ausgeschlossene“ bezeichnet). Und auch in diesen Regimen galt zwingend – wie bei den Zeugen - „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“.
Jetzt schaue ich dich abwartend an. Das ältere Pärchen neben uns scheint gar nichts mehr mit uns anfangen zu können und wendet sich langsam ab. Du hast dir diesmal anscheinend vorgenommen, dich nicht von mir aus dem Konzept bringen zu lassen. Meine Aussage war wohl nicht vorgesehen, du lehnst dich wieder nach vorne auf den Tisch, ignorierst meine Antwort und erzählst irgendwas von Gott als liebendem Vater, der uns durchs Leben hilft, genauso wie liebende Eltern ihre Kinder vor einer heißen Herdplatte warnen würden. Ich sage dir, dass ich es nicht so liebevoll finde, wenn ein Vater seinem Kind zur Strafe den Kopf abhackt, wenn es trotzdem auf die Herdplatte fasst.
Jetzt habe ich dich doch aus dem Konzept gebracht. Du siehst mich mit erschrockenen Augen an, deine Stimme stockt und kiekst. So etwas wie Blasphemie kennst du gar nicht, das ist viel zu weit weg von deiner Welt. Für dich ist ein Gott, der Millionen Menschen in einer Sintflut ersäuft, weil sie sich nicht an seine Hausordnung gehalten haben, das liebevollste Wesen im Universum. Für mich klingen die Geschichten aus der Bibel eher nach einem cholerischen, machtbessenen Massenmörder, gegen den Hitler noch der nette Hobbykiller von nebenan ist.
Immerhin zeigst du jetzt mal eine Regung, auch wenn es eher so eine Art Schockstarre ist. Ich versuche dich da wieder heraus zu reißen, indem ich einen schlechten Witz mache. Ich hätte ja immerhin Glück, dass unsere Eltern uns nicht in den Islam geboren hätten, denn dann müsstest du mir als abtrünnigem Bruder ja Säure ins Gesicht kippen, sage ich. Es scheint zu funktionieren, du wirkst nicht mehr so schockiert. Du atmest durch, sammelst dich und denkst eine Weile über meinen Spruch nach. Dann kommst du zu einem Ergebnis und sagst so ernst du nur kannst: „Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, wir sind absolut friedlich.“ Jetzt bin ich schockiert. Bis eben hatte ich mir auch keine Sorgen gemacht, körperliche Gewalt war für Zeugen Jehovas noch nie ein Weg, seelische Gewalt war viel effektiver. Aber wenn du so lange darüber nachdenken musst, verunsichert mich das jetzt tatsächlich. Ich sitze nur da, bin wohl zum ersten Mal in meinem Leben wirklich entsetzt von meinem großen Bruder, der mich als kleiner Junge an seiner Hand zum Kindergarten gebracht hat. Und der mich jetzt loslassen will.
Du bist wieder in deinem Element, predigst weiter deinen Monolog. Ich müsste doch sehen, dass sich gerade alle Prophezeiungen erfüllen. Du kramst dein Handy raus. Bis eben hatte ich dir hoch angerechnet, dass du keine Bibel oder sonstige Zeugen-Bücher zu unserem Treffen mitgebracht hast. Aber du gehst ja mit der Zeit. Du hast das jetzt alles auf dem Handy. Wir sitzen jetzt also wirklich hier, an einem heißen Sommertag im Biergarten und du liest mir Bibelstellen vor. Und wieder sage ich nichts, sondern bin nur schockiert. Du liest mir ernsthaft die absoluten Standard-Bibelstellen vor, mit denen die Zeugen seit über hundert Jahren das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt ankündigen. Es sind nur eine Handvoll Bibelstellen, aber ich habe sie in meiner Kindheit und Jugend unendliche Male gehört, sie wurden mir ins Gehirn gehämmert. Ich kann jedes Wort mitsprechen, obwohl ich seit Jahren keine Bibel mehr aufgeschlagen habe. Das meinen die also immer mit Gehirnwäsche in Sekten, denke ich mir. Als Kind habe ich das nie verstanden. Wenn Klassenkameraden mitbekommen haben, zu welcher Religion ich gehöre, haben sie immer gesagt „wow, die machen doch Gehirnwäsche, oder?“. Und ich habe dann immer ganz enttäuscht „nein“ gesagt. Ich fand es irgendwie schade, denn so eine Gehirnwäschemaschine hatte doch auch was Spannendes. Aber es ist nicht spannend. Da ist ein kleiner Mann in deinem Kopf, der mit Worten um sich wirft und du kannst ihn nicht abschalten. Ein lebenslanger Ohrwurm aus Bibelzitaten, der dich vollkommen verunsichert und Angst schürt. Und gerade wenn er mal still ist, reichen ein, zwei Worte in der richtigen Reihenfolge, um ihn wieder einzuschalten. Ich will das nicht weiter hören. Ich unterbreche dich und erkläre dir, dass du jemandem, der nicht an Gott und die Bibel glaubt, nicht mit Bibeltexten überzeugen kannst.
Ich hatte dir schon einmal gesagt, dass ich Atheist bin. Aber auch das gibt es in deiner Welt nicht. Für dich reden sich Atheisten einfach nur ein, Atheisten zu sein. Genauso wie Schwule sich nur einreden schwul zu sein. Bzw. vielleicht ist das ja doch eine ernst zu nehmende  Krankheit, da seid ihr Zeugen euch ja nicht so sicher.
Aber immerhin gehst du zum ersten Mal für heute auf eine meiner Aussagen ein. Wie denn dann die Welt entstanden sein soll, fragst du. Dabei lachst du kurz abwertend und verziehst den Mund. Ich sehe dir deinen inneren Kampf an. Du willst mich ernst nehmen, denn prinzipiell respektierst du mich als gebildeten Menschen. Aber die Idee der Evolution ist für dich so absurd, dass du mich hier gar nicht ernst nehmen kannst. Du hast auch niemals auch nur über die Idee an sich nachgedacht, sondern immer nur, wie man sie Menschen, die daran glauben, wieder ausreden kann.
Ich spreche es trotzdem aus. Ich sage, dass ich die Evolutionstheorie für gar nicht so abwegig halte, aber dass ich mir auch nicht anmaße, Dinge mit Sicherheit zu „wissen“, die kein Mensch wirklich wissen kann. Ok, das war ein Seitenhieb, denn Zeugen Jehovas glauben nicht, sie wissen.
Du lachst wieder. Es ist ein gequältes, unsicheres Lachen. Soweit weg von der „Wahrheit“ hattest du mich anscheinend nicht vermutet. Deshalb fällt dir auch nichts ein, als das Standartzeugenbeispiel für ungebildete Evolutionisten auszupacken. Das top ausgestattete Haus, das (warum auch immer) irgendwo mitten in der Wüste steht und das ja wohl kaum von selbst entstanden sein kann. Und so müsste man auch das Universum sehen.
Wieder bin ich enttäuscht von deiner Rhetorik. Gegenüber jemandem, der 25 Jahre lang mit solchen Beispielen dauerberieselt wurde und sie pflichtbewusst selbst im Notfall eingesetzt hat, könnte man doch etwas anspruchsvoller vorgehen.
Ich müsste doch wissen, dass in der Bibel Dinge stehen, die nur Gott wissen kann, sagst du inzwischen etwas aufgeregter. Du fängst an hektisch auf deinem Handydisplay rumzuscrollen und schiebst dir nervös deine Brille wieder zurecht. Dann findest du was. Hiob hätte geschrieben, dass die „Erde aufgehängt an nichts“ wäre. Das würde ganz klar bedeuten, dass er dank Gott damals schon wusste, dass die Erde rund ist und um die Sonne kreist.
Aha. Für mich steht da nur, dass er in den Himmel geguckt und keine Schnüre gesehen hat.
Du zeigst mir noch eine Lieblingsstelle von Millionen von Zeugen Jehovas: „Deine Augen sahen sogar den Embryo von mir, und in dein Buch waren alle seine Teile eingeschrieben“. Steht so in den Psalmen. Laut Wachtturmgesellschaft ist das der klare Beweis dafür, dass David damals schon wusste, dass es so etwas wie einen DNS-Strang gibt.  
Jetzt muss ich ernsthaft ein Lachen unterdrücken. Natürlich kannte ich auch diese Stelle, aber inzwischen hat der Wortlaut und die Deutung für mich so viel gemeinsam wie ein Brathähnchen mit veganem Essen. Gleichzeitig kann ich ernst bleiben, weil ich mich erinnere, dass auch mein Gehirn einmal verwaschen genug war, um diese Erklärung als völlig logisch anzunehmen. Für dich gibt es nur diese eine Interpretation, alles andere geht schon wieder in Richtung Blasphemie. Dass ich dort nicht mehr das gleiche lese wie du, ist für dich mehr als nicht nachvollziehbar. Es kann nicht sein. Es darf nicht sein. Du wirkst verzweifelt, weil die Worte, die dir so unglaublich viel bedeuten, einfach so an mir abperlen. Ich kann nichts mehr damit anfangen und will auch nichts mehr damit anfangen.
Du rutschst nervös auf deinem Stuhl herum, stützt dich am Tisch auf, um dich dann doch wieder zurückzulehnen. „Was, wenn plötzlich alle Prophezeiungen eintreten?“, fragst du. „Was soll dann sein?“, wundere ich mich und ziehe meine Stirn in Falten. Ein völlig abwegiger Gedanke für mich, ein absolut klarer für dich. „Na, wenn jetzt überall Kriege ausbrechen, es gleichzeitig in allen Ländern Erdbeben gibt und plötzlich alle Regierungen der Welt zusammenbrechen? Was machst du dann?“. In meinem Kopf läuft ein Roland Emmerich Kurzfilm ab und ich freue mich, dass mir DAS Horrorszenario, mit dem ich aufgewachsen bin, überhaupt keine Angst mehr macht. Es ist ein schlechtes Science-Fiction Szenario, mehr nicht. Also zucke ich mit den Schultern und sage, dass die Vorstellung für mich so komplett unrealistisch ist, dass ich nichts anders machen würde, als jetzt auch.
Für dich ist das zu viel. Dein Brustkorb bebt, dein Gesicht läuft rot an, deine Augen werden glasig. Du kannst ja doch noch Emotionen. Aber es ist auch das Ende deiner Argumente. Dann muss ich wohl machen, was ich für richtig halte. Mit einem Kopfschütteln lässt du dir die Rechnung bringen.
Das war’s dann wohl, denke ich mir. Das war mein Bruder, der jetzt nur noch auf dem Papier mein Bruder ist. Der Mann, mit dem ich meine ganze Kindheit, Urlaube, meine Jugend und so viele tolle Stunden verbracht habe. Der Mann, den ich mir als so tollen Onkel für meine Kinder vorgestellt habe. Der Kinder so gerne mag, aber erst noch den Weltuntergang abwartet, bevor er selbst welche haben möchte.
Wir stehen auf, bahnen uns den Weg zwischen den Tischen hindurch, zurück in die Fußgängerzone. Meine Augen sind feucht, meine Kehle fühlt sich zugeschnürt an, meine Stimme ist zittrig. Ich will nicht, dass hier einfach alles vorbei ist. Es ist, als würde mein Bruder gerade vor meinen Augen von einem Auto überfahren. Mir wird klar, dass du ab jetzt nicht mehr mit mir sprichst, dass ich ab jetzt nicht mehr für dich existiere.  Du reichst mir noch einmal die Hand. „Ich will nicht im Streit auseinander gehen“ sagst du, „wenn etwas mit den Eltern ist, dann…“ deine Stimme kiekst und bricht weg. Ich gebe dir kraftlos die Hand und nicke dir zu. Ich will auch nicht im Streit auseinander gehen. Ich will gar nicht auseinander gehen. Aber ich kann nichts dagegen tun, ich bin vollkommen machtlos. Ab jetzt lebt jeder sein Leben, ab jetzt sind wir getrennte Brüder.  

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