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Mikrokosmos

Text: Jahre

Als sich Maximilian Maier in einem rot ausgeleuchteten Raum materialisierte, stellte er fest, dass jenseits der drei Glaswände, inmitten einer dunklen Leere, regelmäßig rote Punkte aufleuchteten. Er trat an die Wand, blickte die Punkte eine Weile an und deutete sie als Augen, die ihn erwartungsvoll beobachteten, ohne dass er über die Möglichkeit sinniert hätte, es vielleicht nur mit einer leblosen Weihnachtslichterkette oder dergleichen zu tun zu haben. Beim Anblick dieser Augen wurde er zusehends nervös, was sich an einem leichten Zittern der Finger bemerkbar machte. Schließlich beschloss er, sich wieder dem Alltagsleben zuzuwenden. Als er sich umdrehte, fand er eine mit Kacheln beflieste Wand, einen Kühlschrank, einen Ofen und ein Waschbecken vor, an das sich, nur mit Unterwäschen, Schirmmütze und Handwerksgürtel bekleidet, Claudia Wels angekettet hatte. Zwar verfügte sie über einen jungen und attraktiven, vielleicht etwas zu schlanken Körper, hatte an ihren Händen aber eine dicke Hornhaut gebildet. Maximilian blickte sie eine Weile an, in der Hoffnung auf eine Reaktion jedweder Art, ohne dass etwas geschehen wäre.



„Ich habe bezahlt, Claudia“, eröffnete er schließlich das Gespräch, ohne das Zittern seiner Finger unterbinden zu können, das jedes Mal für einen Moment stärker wurde, wenn er einen kurzen Blick aus der Glaswand warf, „Jetzt möchte ich, dass du mich liebst. Ich will, dass du mich in deine Arme nimmst und mich liebevoll kitzelst. Ich will, dass du so tust, als würde es dir Freude bereiten, zu sehen, wie ich lache und so tue, als wäre ich glücklich.“



„Ja, kann schon sein, dass du das willst“, antwortete Claudia unterkühlt, womit sie Maximilian ein wenig verunsicherte. Claudia bemühte sich um einen selbstsicheren, aufgeweckten Gesichtsausdruck, den aufrechtzuerhalten ihr bei jedem Blick aus der Glaswand schwerfiel. Auch sie interpretierte die roten Lichter als beobachtende Augen, die sie unter Erwartungsdruck setzten. Nervös rieb sie dabei ihre schmutzigen Fußsohlen aneinander. Maximilian wartete derweil vergebens auf hilfreichere Worte Claudias.



„Ich will, dass du mir Schnitzel mit Kartoffeln machst“, forderte er mit festerer Stimme, worauf Claudia erwiderte: „Und ich will nicht verhungern.“



Eine Weile ging das Gespräch in der Form hin und her, ohne dass beide eine Lösung gefunden hätten. Regelmäßig warfen dabei beide ihre Blicke aus der Glaswand, wodurch sich ihre nervösen Handlungen stets verstärkten. Schließlich betrachteten sie sich schweigend.



„Gut, gut, natürlich versteh ich das, warum du nicht verhungern willst“, meinte Maximilian, womit er bei Claudia eine Spur Hoffnung auslöste, die sich auf ihre Knie aufstützte, „Aber was kann ich tun?“



„Du müsstest mehr für mich bezahlen“, antwortete Claudia mit leuchtenden Augen und einem hoffnungsvollen Lächeln, „Tust du das? Dann kitzle ich dich auch wieder.“



Maximilian musterte sie von Kopf bis Fuß und fragte sich dabei, ob ihre Schlankheit aus ihrer schlechten Bezahlung resultierte.



„Nein, ich werde nicht mehr bezahlen. Das kann ich nicht tun. Es ist wichtig für mich, das nicht zu tun“, entgegnete Maximilian kopfschüttelnd. Während er sich verunsichert nach den vermeintlichen Augen umsah, sackte Claudia enttäuscht in sich zusammen.



„Dann musst du mit Ulrike darüber reden“, erklärte Claudia resigniert. Auch ein Blick auf die roten Lichtpunkte änderte nichts daran, dass ihre Nervosität einer Desillusionierung gewichen wäre. Maximilian betrachtete sie mitleidig und sinnierte über Worte, die trösten und ihn zugleich rechtfertigen sollten, unterließ das allerdings.



„Okay, ich rede mit ihr“, antwortete Maximilian und schritt durch eine Tür, die sich an der Kachelwand bildete. Er betrat einen gelb ausgeleuchteten Raum, der abermals mit drei Glaswänden ausgestattet war, hinter denen sich jene roten Lichtpunkte befanden, die er eine Weile geradezu entgeistert betrachtete. Schließlich bemerkte er neben sich eine Krankenbahre, auf der Ulrike Weberknecht lag, die an einem Tropf angeschlossen war. Sie trug einen feinen Herrenanzug mit Krawatte und hatte sich einen dichten Oberlippenbart unter die Nase geklebt. Der übrige Raum war mit einem Schreibtisch, einem Drehstuhl und zwei Aktenschränken ausgestattet. Über der Bahre war ein Regal angebracht, in dem sich mehrere Modellsportwägen befanden. Nach gegenseitiger Begrüßung nahm Maximilian einen Bürostuhl und setzte sich zu ihr hin. Erwartungsvoll blickte er sie eine Weile an, ehe er sagte: „Claudia streikt.“



„Nicht schon wieder“, ärgerte sich Ulrike, „Dieses undankbare Balg.“



„Du weißt, dass ich für sie bezahlt habe“, setzte Maximilian schließlich fort, „Sie will mich allerdings nicht kitzeln, um nicht verhungern zu müssen, wie sie sagt. Sie will besser bezahlt werden.“



Ulrike schüttelte ungläubig den Kopf und sagte dann: „Dann zahl halt mehr. Wo ist das Problem?“



„Das kann ich nicht“, antwortete Maximilian, wobei seine Finger wieder zu zittern anfingen, „Es wäre nicht gut für mich.“



„Und wieso nicht?“



„Es ist wichtig, nicht mehr zu zahlen als nötig“, antwortete Maximilian, der sich verstohlen nach den roten Augen umsah. Das Zittern der Finger wurde immer stärker. Ulrike bemerkte das, schwieg aber.



„Und was erwartest du dann von mir?“



„Du könntest sie doch besser bezahlen.“



„Bist du wahnsinnig?“ fragte Ulrike aufgebracht, wobei sie wieder husten musste, „Du siehst doch, dass ich dazu nicht fähig bin. Ich bin sowieso schon krank und schwach. Und du weißt, dass ich immer gut bezahlt habe.“



Maximilian nickte dabei verständnisvoll.



„Außerdem spare ich für ein weiteres Exemplar für meine Sammlung an Modellautos“, ergänzte Ulrike und blickte dabei selbst auf die Lichtpunkte jenseits der Glaswand, was von einem zunehmenden Zähneklappern begleitet wurde. Maximilian blickte sie dabei enttäuscht an und schüttelte den Kopf.



„Wie gierig du doch bist“, rief er erregt, „Andere drohen zu verhungern. Und du behältst das Geld bei dir.“



„Ich brauche es selbst. Wie oft soll ich das noch sagen?“



„Für Modellautos?“ rief Maximilian aus und lachte dabei höhnisch, „Du hast doch schon Tausende.“



„Auch für meine Gesundheit, Maximilian, dafür brauche ich es auch.“



„Ja genau. Und für Modellautos!“



„Ja, auch für Modellautos, aber das ist für mich von großer Wichtigkeit“, antwortete Ulrike durch die Glaswand blickend, „Dir ist es doch auch wichtig, für Claudia nicht mehr als nötig auszugeben, oder irre ich mich?“



Maximilian stand auf und lief erregt durch das Zimmer. Schließlich blieb er stehen und wartete eine Weile. Er blickte auf Ulrike, die ahnungslos ihre Achseln zuckte, worauf Maximilian seine Geduld verlor und den Stuhl gegen die Glaswand schleuderte, an der er zerschellte, ohne an ihr etwas auszurichten.



„Den zahlst du aber“, sagte Ulrike. Maximilian trat an die Glaswand und betrachtete eine Weile mit zitternden Händen die roten Augen. Nichts geschah.



„Was für ein Mist aber auch. Claudia droht zu verhungern, du bist todkrank und ich finde niemanden, der mich für Geld kitzelt“, jammerte er und schlug mit der Fast gegen die Glaswand, „Wenn ich doch nur wüsste, wen ich für das Ganze beschuldigen könnte.“



„Claudia natürlich“, schlug Ulrike vor und hustete etwas.



„Sie würde sicher sagen, dich“, erwiderte Maximilian. Er wandte sich von der Glaswand ab und betrachtete Ulrike, die unschuldig die Achseln zuckte. Eine Weile blickten sie sich schweigend an, ehe Maximilian entschlossen durch die Tür schritt. Er betrat einen Raum, der braun ausgeleuchtet war und wie üblich an drei Wänden aus Glas bestand. In der Mitte hingen die ausgebluteten Leiber zweier Mastschweine, deren Köpfe noch nicht abgesetzt waren. Maximilian betrachtete seine Hände und stellte fest, dass er Boxhandschuhe trug. Ohne die roten Augen zu beachten, ging er zielstrebig auf die Kadaver zu und begann, auf beide abwechselnd einzuschlagen. Dabei ging er so heftig vor, dass er sich regelrecht in Trance prügelte. In diesem Zustand schienen ihm die Schweineköpfe die Gesichter von Ulrike und Claudia einzunehmen. Schließlich dematerialisierte sich Maximilian mit den Kadavern und übrig blieb ein leerer Raum, der von möglicherweise leblosen roten Augen beobachtet wurde.






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