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Das Ritual

Text: Jahre

Seit vor einigen Jahrtausenden die Erde beinahe zum Stillstand gekommen war, hatte sich in der Republik die Tageszeit nicht mehr geändert. Wie üblich herrschte Abenddämmerung. Oder Morgendämmerung. Irgendwo knapp über dem Horizont verbarg sich hinter einer dichten Wolkendecke die Sonne, die sich einer vollständigen Verdunkelung der Republik stets widersetzte, dabei aber die Notwendigkeit künstlichen Lichts nicht zu verhindern wusste. In dieser permanent gewordenen Übergangsphase von Tag zu Nacht und von Nacht zu Tag geschah es einmal, dass in der örtlichen Kirche ein Geburtsritual vorbereitet wurde. Es handelte sich um das Kind von Elisabeth Hirschler, die als Arbeiterin in einer örtlichen Fabrik angestellt war, die täglich tonnenweise Herzamulette aus Stahl produzierte und diese sogleich wieder einschmolz, um es den Arbeitern zur erneuten Herstellung von Stahlherzen weitergeben zu können, deren Arbeitsplätze auf diesem Wege dauerhaft gesichert werden konnten. Zwar war es offiziell verboten, doch drückten die Vorgesetzen einige Male ihre Augen zu, wenn einer ihrer Angestellten sich ein Stahlherz heimlich in den Rachen schob, um es zuhause ausspeien und als Amulett tragen zu können.



Auch bei Elisabeth sah man das Stahlherz an einer Halskette baumeln, als sie auf einer Krankenliege von zwei Krankenschwestern, die jeweils einen Mühlsteinkragen zur Demonstration ihrer Sakralität trugen, in den Kirchensaal gefahren wurde. Während sie permanent wie von Sinnen schrie, wurde sie an den Gebetsbänken vorbei, an denen Verwandte und Freunde saßen, die das Schauspiel der Geburt mit eigenen Augen verfolgen wollten, an den Altar gefahren, wo sie an einen Röhrenfernseher, der nur weißes Rauschen ausstrahlte, angeschlossen wurde. Nach einer Weile betrat eine Person durch den Haupteingang den Saal, was durch eine theatralische Orgelmusik begleitet wurde, deren plötzlich einsetzender Lärm bei manchen der Verwandten und Freunde Elisabeths einen Herzinfarkt, wenn nicht gar eine spontane Kopfexplosion auslöste. Die überlebenden Teilnehmer beruhigten sich allerdings bald wieder, als sie feststellten, dass es sich bei jener Person, die eingetreten war, um Dr. Andrea Kurze handelte, die in Personalunion Ärztin und Pfarrerin war, was durch die schwarz-weißen Querstreifen auf ihrer Uniform zum Ausdruck gebracht wurde.



Dr. Kurze ging nun auf den Altar zu, nach wie vor begleitet von der Orgelmusik, in die sich nun zusätzlich ein dramatischer Chorgesang einstimmte, und begrüßte mit einem förmlichen Händeschütteln die angehende Mutter, die immerzu wie von Sinnen schrie.



„Ist schon gut, ist schon gut!“ rief die Pfarrerin mit beschwichtigenden Gesten der Decke zu. Manch einer mochte glauben, es handelte sich um eine Konversation mit Gott, doch schien sie lediglich dem Orchester signalisiert zu haben, die Musik einzustellen.



„Herzlich willkommen, meine lieben Mitmenschen, in der Kirche der Guten zu einer weiteren spannenden Geburt. Mein Name ist Dr. Andrea Kurze. Ich werde Sie durch den Abend begleiten“, sagte Dr. Kurze, ehe sie sich Elisabeth und den Schwestern zuwandte.



„Nun, was haben wir hier?“ fragte sie in heiterem Ton.



„Sie ist schwanger“, antwortete eine Krankenschwester gleichgültig.



„Ah ja, ein Klassiker“, sagte Dr. Kurze, „Hat die Dame Schmerzen?“



„Sonst würde sie wohl nicht derart schreien“, antwortete die Krankenschwester unbewegt.



„Alles klar. Kein Problem. Stellen Sie nur den Fernseher auf AV. Dann vergehen die Schmerzen von ganz alleine“, sagte Dr. Kurze



Die Krankenschwester drückte am Fernseher wahllos einige Knöpfe, was einen Bildausfall auslöste. Im gleichen Moment beendete Elisabeth ihr Geschrei.



„Frau Hirschler, wie geht es Ihnen?“ fragte die Ärztin.



„Bestens, danke. Eine Zigarette wäre vielleicht nicht verkehrt“, antwortete Elisabeth gelangweilt.



„Schwester, geben Sie der Dame eine Zigarette“, befahl Dr. Kurze und wandte sich wieder ihrer Patientin zu, „Sie sollen sich in der Kirche ja wohl fühlen, nicht wahr?“



Die Krankenschwester zog zur Unterhaltung des Publikums eine Zigarette aus ihrem Ohr, steckte sie Elisabeth in den Mund und zündete sie an.



„Ah, köstlich“, sagte Elisabeth schwärmerisch bis zur Entrückung, wobei sie ihren Kopf auf das Kissen fallen ließ und mit debilem Blick die Decke anstarrte.



„Was darf es sonst sein?“ fragte Dr. Kurze, worauf Elisabeth ihren Kopf anhob und sie leicht irritiert anblickte und sagte: „Was genau meinen Sie? Gibt es etwas kostenlos?“



„Ja, eine Geburt beispielsweise“, antwortete die Priesterin, „Eine Beichte oder Haferflocken müssten Sie dagegen bezahlen.“



„Ach ja, die Geburt“, sagte Elisabeth und ließ ihren Kopf erneut auf das Kissen fallen, „Ja, ich will eine. Aus dem Grund bin ich ja hier.“



„Ganz genau“, stimmte Dr. Kurze zu und zog hinter dem Altar eine schmutzige und etwas zerlumpte Holzschachtel hervor, „In dieser Kiste befinden sich drei Kinder im Stadium von Föten, eines schön, eines hässlich, eines durchschnittlich. Welches wollen Sie?“



Aufgrund ihrer nikotinbedingten Entrückung war es schwer festzustellen, ob Elisabeth wirklich über eine Entscheidung sinnierte oder lediglich eine außerkörperliche Erfahrung hatte. Nach einer Weile stieß sie nuschelnd „Durchschnittlich“ aus, das Dr. Kurze nach einhundertneunundfünfzigfachem Nachfragen schließlich verstand.



„Das durchschnittliche Kind also. Wir sind aber bescheiden heute“, sagte sie und holte aus der Holzschachtel ein übergroßes Reagenzglas hervor, in dem sich ein Säugling befand, das in einer nicht weiter definierbaren Flüssigkeit eingelegt zu schlafen schien. Das Glas war mit einem knallroten Plastikdeckel verschlossen und an der Seite waren noch Reste einer Etikettierung vor der Wiederverwertung als Laborgerätschaft zu sehen.



„‚Gurkentopf‘“, las Dr. Kurze vom Etikett ab



„Ach, Gurkentopf! Was waren die vielleicht edel“, schwärmte Elisabeth.



„Ja, das waren sie“, pflichtete die Ärztin bei, die jedoch die Fassung wahren konnte und mehrfach erfolglos versuchte, den Deckel zu entfernen.



„Das verdammte Ding klemmt mal wieder“, sagte sie nach einer Weile genervt, ehe sie ihrem Krankenpersonal in plötzlicher Hast zurief: „Alles bereit machen zur Entbindung!“



In hektischen Bewegungen eilten sie und ihre Schwestern auf der Altarbühne hin und her. Nach einer Weile enthüllten die Schwestern eine Kanone, die sich unter der Krankenliege Elisabeths befand und bislang von ihrer Decke verborgen war.



„Pressen! Pressen! Pressen Sie um Ihr Leben!“ schrie Dr. Kurze ebenfalls wie von Sinnen, während sie das Reagenzglas ins Kanonenrohr schob. Elisabeth war dagegen zwischenzeitlich eingeschlafen. Die Zigarette fiel ihr aus dem Mund und entflammte auf dem Weg zum Boden die Zündschnur der Kanone, die nun hinunterbrannte und mit einem lauten Knall das Reagenzglas gegen den Altar schleuderte. Die Teilnehmer im Saal hatten sich rechtzeitig hinter ihren Bänken versteckt, lugten nun aber mit vorsichtiger Neugier wieder hervor. Voller Spannung verfolgten sie, wie Dr. Kurze wagemutig auf das Reagenzglas zutrat, das den Aufprall aus nicht näher eruierbaren Gründen bruchlos überstanden hatte, es in die Hände nahm, nunmehr problemlos den Deckel öffnete und den Säugling herauszog, der sogleich zu weinen und zu schreien begann, um stolz seine Lebendigkeit zu demonstrieren.



„Es ist ein Mädchen!“ rief die Pfarrerin dem Publikum zu, das zu jubeln begann, ehe zur Freude des Tages die Orgel einstimmte und für einige weitere Kopfexplosionen sorgte.



„Welchen Namen soll das Kind tragen?“ fragte Dr. Kurze die junge Mutter, die nur allmählich aus ihrer Trance erwachte.



„Gurkentopf“, antwortete Elisabeth beinahe flüsternd, worauf die Ärztin mit skeptischem Blick sagte: „Der Name ist für meinen Geschmack zu kontrovers.“



Sie wandte sich nun ans Publikum: „Gibt es denn einen Taufpaten?“



„Ja, mich“, rief ein dreizehnjähriges Mädchen mit euphorisierter Handbewegung, die aufstand und nach vorne eilte, „Mein Name ist Hanna Hirschler. Ich bin die gesetzliche Schwester von Elisabeth.“



„Hanna? Von Johanna?“ fragte Dr. Kurze nach, was Hanna mit heftigem Kopfnicken bejahte, „So sei dann auch der Name des Kindes.“



„Ja, das ist auch Elisabeths Wunsch“, erwiderte Hanna.



„Nun gut, Hanna, dann musst du als Taufpatin das Kind ins Reagenzglas quetschen“, forderte Dr. Kurze sie auf, „Je mehr Gewalt du anwendest, desto besser gelingt dir das.“



Hanna steckte nun das Kind kopfüber in das Reagenzglas, wobei sie mehrere Anläufe und die tatkräftige Hilfe der Ärztin benötigte, die sie insbesondere durch wilde Flüche leistete.



„Ich taufe Sie im Namen des Guten und des Besseren und des Besten auf den Namen Johanna Hirschler“, sagte Dr. Kurze nach erfolgreichem Ausgang dieses Procederes, „Kraft meines Amtes als Ärztin, Pfarrerin und Grenzbeamte heiße ich Ihre Seele in der Republik der Guten herzlich willkommen, auf das sie für immer unter uns weile und nie wieder ins Reich des Bösen zurückkehre. Amen.“



„Amen“, riefen unisono die Verwandten und Freunde aus, aber auch Hanna und die Ministrantenkrankenschwestern.



„Sie haben wie so viele Seelen vor Ihnen und nach Ihnen den Weg der Flucht aus dem Reich des Bösen genommen und ihn erfolgreich beschritten“, führte Dr. Kurze ihre Predigt weiter aus, während sie über das Reagenzglas einige kryptische Gesten machte, „Hiermit verleihe ich Ihnen feierlich Ihre Dokumente, die Sie in den Rechtsstand eines unmündigen Bürgers der Republik der Guten versetzen. Amen.“



„Amen“, rief das Publikum. Dr. Kurze nahm nun eine Reihe Akten vom Altar und stopfte diese ins Reagenzglas.



„Ihre Papiere aus dem Reich des Bösen werden nun rechtmäßig vernichtet“, kündigte Dr. Kurze an, worauf die Krankenschwestern auf dem Altar in einer mit Öl angefüllten Aluminiumschale ein Feuer erzeugten. Die Ärztin nahm nun ein riesiges Plakat in die Hände, das sie dem Publikum zeigte.



„AUSWEISS! STATSANGEHORIGKET: BÖSE!!!“ stand mit einem schwarzen Filzstift in einer infantil anmutenden Schrift darauf geschrieben, was das Publikum zu wilden Pfiffen, Buhrufen und abfälligen Bemerkungen animierte. Dr. Kurze warf das Plakat nun feierlich ins Feuer, was die Anwesenden zu lautem Jubel animierte, ehe sie das Reagenzglas wieder in die Hand nahm.



„Sie haben nun die offizielle Berechtigung, über Ihren Körper nach Belieben zu verfügen“, setzte sie fort, „Ich möchte Sie dennoch darauf hinweisen, dass Sie im Falle gesetzeswidriger Handlungen vor Gericht gestellt und rechtskräftig ins Reich des Bösen abgeschoben werden können. Betrachten Sie sich folglich als vorgewarnt. Amen.“



„Amen.“



„Als rechtmäßige Mutter und Erziehungsberechtigte ist Ihnen Elisabeth Hirschler zugeteilt, die sich um Ihre Erziehung ganz im Geiste der rechtlichen, geistigen und kulturellen Errungenschaften der Republik der Guten kümmern wird. Amen.“



„Amen.“



„Sollten noch Fragen bestehen, dann sind Sie dazu angehalten, selbige jetzt zu äußern oder für immer zu schweigen.“



Der Säugling weinte statt Fragen zu stellen.



„Ein braves Kind“, meinte Dr. Kurze und zog mit Hannas Hilfe das Kind aus dem Glas, um ihn Elisabeth in die Arme legen zu können. Dabei setzte das Orgelorchester mit all seiner penetranten Lautstärke wieder ein. Abermals explodierten Köpfe.



„Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit dem Kind“, sagte Dr. Kurze dabei und wandte sich dem Publikum zu: „Meine lieben Mitmenschen, haben Sie vielen Dank für Ihre Teilnahme an dieser Geburt. Ich hoffe, es hat Ihnen genauso viel Spaß gemacht wie mir. Und verpassen Sie nicht am Dienstag die nächste spannende Beerdigung. Kommen Sie gut nachhause. Auf Wiedersehen.“



Zur Orgelmusik verließen nun alle den Saal, Dr. Kurze ebenso wie Hanna und Elisabeth, die von den Krankenschwestern auf ihrer Liege nach draußen in die Abend- oder Morgendämmerung befördert wurde.






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