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Der blaue Rausch

Text: Kristen

 „Alkohol du böser Geist, auch wenn du mich zu Boden reißt, ich stehe auf, du boxt mich nieder, ich kotz dich aus und sauf dich wieder!“



Und wie geht’s weiter? Machen wir daraus eine Endlosschleife? Und wann ist diese Endlosschleife dann doch zu ende? Denn sie hat ein Ende. Das Leben an sich verabschiedet sich schon viel früher und hat kein Bock mehr. Es ist das Gefühl mit einer weichen Luftmatratze auf dem warmen, hellblauen und unendlichem Meer zu schwimmen. Es gibt nichts. Keine Emotionen, keine Veränderung, kein Tun und Müssen und keine Menschen. Du bist ganz alleine ohne dich einsam zu fühlen. Zeit und Raum verlieren an Bedeutung. Es ist alles egal. Du bist egal. Dein Leben ist egal. Die Anderen sind egal. Hauptsache ist, dass das diesen Zustand hervorrufende Zeug nicht ausgeht.

Das perfekte Bild, wenn einfach alles scheiß-egal geworden ist: Ich hab nichts mehr vor im Leben. Ich hab aufgegeben. Die Anspannung fällt ab. Ich muss absolut gar nichts mehr tun. Die Menschen, die mich hartnäckig „retten“ wollten sind weg. Ich hab meine eigene Bude mit einem herrlichen Blick aufs Meer in einem kleinen Fischerdorf, wo jeder jeden ignoriert. Bloß keine Menschen, die meine himmlische Ruhe stören könnten. Aufstehen, aus dem Haus treten. Natürlich ist es angenehm warm und das Gras kitzelt ganz sanft unter meinen nackten Füßen. Ein leichter, zarter Windhauch umspielt mein Gesicht. Erstmal ein leckeres, kühles Bier trinken und eine befriedigende Zigarette rauchen.....in den hellblauen Himmel schauen und die kleinen Schafswolken vorbei ziehen lassen.



Ja, du darfst. Du darfst dich dafür entscheiden einfach aufzugeben. Die letzte Zeit deines Lebens rauchen und saufen und ansonsten gar nichts mehr tun. Aber ist dieses urlaubsgleiche Traumbild selbst durch das ständige Halten eines anständigen Pegels möglich?







Oder ist das realistischere Bild nicht eher dies:



Ich wache auf. Fühle mich elendig schlapp und kann mich an gestern Abend überhaupt nicht mehr erinnern. Mein Zimmer gleicht einer abgeranzten Kneipe: Überall leere Bierflasche, Kippen und Dreck. Ich stehe auf und stelle fest, dass ich übersät bin von blauen Flecken. Anscheinend war es eine coole und erfolgreiche One-Woman-Party. Bei dem Versuch mich zu duschen, macht mein Kreislauf schlapp und eh ist dieser Tag schon am Morgen wieder gelaufen. Keine Kraft für nichts, kein Bock auf nichts, keine Menschen um mich herum. Ich versuche dem Chaos her zu werden und räume ein bisschen auf. Aber natürlich: Bei dem desolaten Zustand und da ja eh nichts geht, ab zum Supermarkt und Nachschub ordern. Gestern wars noch irgendwie erleichternd zu trinken, heute ist es deprimierend. Mir ist langweilig, aber ich kann nichts machen. Alles ist zu anstrengend. Ich möchte nicht mehr. Was soll ich hier? Ich fühle mich wahnsinnig einsam. Meine Suchthöhle ist zur einsamen Suchthölle mutiert. Das urlaubsgleiche Panoramabild stellt sich auch nach drei Bier nicht ein. Das Leben ist scheiße.







Ich hab die Wahl. Ich habe die Wahl, weil es mein Leben ist. Ich bestimme. Und niemand anders. Die anderen dürfen für ihr Leben entscheiden. Ich habe die Wahl zwischen Leben und Sterben. Ich darf trinken. Ich erlaube es mir. Ich darf trinken und mich damit ganz bewusst für den baldigen Tod entscheiden. Vielleicht dauert er faktisch noch etwas länger, aber das leblose/ ausserhalb des Lebens stehende, habe ich sofort. Wenn ich den Weg wähle, bin ich alleine. Beim Sterben muss mir keiner helfen. Dass kann ich ganz gut alleine. Es wäre völlig in Ordnung für mich diesen Weg zu wählen.







Aber ich entscheide mich anders. In der Nacht der tiefen Entscheidungsfindung ballert eine Faust aus dem Unterbewusstsein gegen mein Herz und schreit: LEBEN. Ganz eindeutig, klar und laut.



Ich steh an der Weggabelung und entscheide mich für den anderen Weg. Ein Weg in die völlige Ungewissheit. Keine Ahnung, wie das Leben eigentlich aussieht. Keine Ahnung, was ich eigentlich im Leben möchte. Keine Ahnung, wie sich Leben überhaupt anfühlt. Solange daneben gestanden. So lange außen vor gewesen. Eine Reise beginnt.







Und sie ist er-nüchternd. Ich bin grundlos angespannt. Ich weiß nicht wohin mit mir und weiß noch weniger was eigentlich los ist. Ich fange wieder an zu spüren. Ah ha, dass muss Wut sein. Interessant. Und wie in Gottes Namen werde ich sie bitte wieder los?



Der Berg, der sich vor mich auftürmt wird immer größer. Es macht kein Spass dieses Leben. Es ist so mühsam und doch gar nicht plötzlich toll. Wo ist das rosarote Yearh-Gefühl? Wo ist das extasische Ich-bin-wieder-da-Gefühl? Purer Er-Nüchertung! Aber es ist klar...die Faust hämmert in meiner Brust. Ich habe mich für diese Reise entschieden.



Ganz langsam sehe ich am Wegrand kleine, fast unscheinbare Veilchen wachsen. Sie sind wunderschön. Von einer atemberaubenden Intensität wie ich sie vorher noch nie festgestellt habe. Ein Film, ein Buch, eine Begegnung mit einem anderen Menschen ziehen mich so in den Bann, dass ich anschließend erstaunt wieder auftauche und mich wundere, wo ich war. Es ist wie ein Rausch nur, dass ich mich mit Leib und Seele später daran erinnern kann. Es fühlt sich voll und satt an. Nach der Er-Nüchterung und dem absoluten Nullpunkt fange ich an ganz kleine Positivpunkte zu sammeln. Das Er-Leben beginnt. Die Intensität wächst. Die Tiefe breitet sich in einer warmen Unendlichkeit vor mir aus. Ich tauche ein. Ich tauche ein in ein Leben voller Fühlen und Erleben. Voller Momente der Zufriedenheit, der Nähe, der Freude und des Glücks. Voller Momente der Überforderung, des Frustes, der Trauer und der Wut. Emotionen sind wie ein bunter Strauß Blumen bei dem alle Farben vorhanden sind. Sie sind ein Geschenk. Ich bin dankbar dafür.

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