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"Die Unabhängigkeit ist wie Schwangersein"

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"Lieber Knallköpfe aus Edinburgh als Knallköpfe aus London"

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Andy Williamson, 24, Sohn eines Maschinenbauingenieurs und einer Bauerstochter, lebt im 9000-Seelen-Nest Thurso, am nördlichsten Zipfel des Vereinten Königreichs.

"Zwölf Stunden braucht man mit dem Auto von London bis hierher. Kein Wunder also, dass wir uns von den Leuten in London nicht verstanden fühlen. Hier, am Ende Schottlands, hast du zwei Möglichkeiten Geld zu verdienen, die eine ist grün, die andere gelb. Entweder als Bauer mit Kühen, Schafen und EU-Subventionen – oder der du lebst von den staatlichen Geldern der Nuclear Decommissioning Authority. Als Angestellter dieser Behörde zerlegst du dann das stillgelegte Atomkraftwerk Dounreay.

'Nie im Leben wirst du mit deiner Musik Geld machen' – haben mir meine Lehrer und auch meine Eltern vor mehr als zehn Jahren prophezeit. Die letzten vier Jahre auf der Highschool waren deswegen ein ständiger Kampf. Weil es hier in Thurso keine gute Musikschule gibt, bin ich dann im Alter von 17 nach Glasgow gezogen, um dort aufs College zu gehen.

Viele der Leute hier sind verängstigt und fühlen sich gefangen. Sie wachen irgendwann auf, haben ein Haus und trauen sich nicht mehr ihren Träumen zu folgen, nur weil sie fürchten das Wenige, was sie haben, zu verlieren. Andere wiederum glauben an den schnellen Erfolg. An den 'quick-fix', den großen Lotto-Gewinn. Von Thurso in den Reichtum – aber auch das passiert nicht.

In den letzten drei Jahren habe ich es geschafft hier, mitten im Nirgendwo, von meiner Musik zu leben und verdiene mittlerweile 2900 Pfund im Monat. Einen Teil verdiene ich mit meinem Tonstudio, einen anderen als Musiklehrer, und den letzten mit meinen Bühnenauftritten. Sogar ein Haus habe ich vor kurzem gekauft - die Bank hat mir ohne Probleme einen Kredit dafür gewährt.

Auch wenn es für Schottland gefährlich werden könnte, so hoffe ich dass die Mehrheit trotzdem für die Unabhängigkeit abstimmen wird. Ich lasse mich lieber von Knallköpfen aus Edinburgh regieren, als von Knallköpfen aus London. Selbst wenn sich alle Schotten im Westminster-Parlament einig wären, und alle für das gleiche abstimmen würden, so würde es keinen Unterschied im Vereinten Königreich machen. Sie sind einfach zu wenige, und haben daher keinen Einfluss.

Ich erwarte von einem unabhängigen Schottland dass es mehr für seine eigenen Talente einsetzt und Geld für seine eigenen Leute in die Hand nimmt. Die Typen, die jetzt mit unserem Geld Entscheidungen treffen, haben keinen Schimmer von unserem Leben. Das alleine genügt mir, um mich für ein unabhängiges Schottland auszusprechen."

"Fortschritt braucht Risiko"

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Letty Bishop kam mit 17 in die Ölstadt Aberdeen an der Ostküste Schottlands, um Modedesign zu studieren. Damals wollte sie nur noch weg von den Shetlandinseln, auf denen sie aufgewachsen ist.

"Ich liebe Mode, vor allem das Entwerfen und Skizzieren, aber die Modeindustrie kann ich nicht ausstehen. Der Konkurrenzkampf ist enorm, alles ist komplett übertrieben und überhaupt nicht nachhaltig. Obwohl ich seit den Scottish Fashion Awards von einer Modeagentur vertreten werde, bin ich mir noch nicht sicher, was ich mit meinem Leben anfangen will.

Trotz meines ausgezeichneten Abschlusses jobbe im Moment als Stripperin und Barkeeperin. Wenn ich in einer freien Minute auf meiner Fensterbank im zweiten Stock sitze, um eine Zigarette zu rauchen, schaue ich oft auf die Granitfassaden meiner Strasse entlang. Nachtclub, 24-Stunden-Laden, Stripclub, Bushaltestelle und ein Kiltverleih. So trist wie hier ist es überall in der Stadt.

Die Leute hier machen sich total verrückt mit der Abstimmung. Da ich von den Shetlands bin, fühle ich mich nicht wirklich schottisch. So kurz vor dem Referendum sind alle sehr aggressiv. Jeder versucht dem anderen seine Meinung aufzuzwingen. Dabei sollte jeder die Entscheidung für sich selbst treffen.

Viele meiner Freunde sind Kunststudenten und wissen nicht, was sie aus ihrem Leben machen, geschweige denn, wie sie einen Job finden sollen. Sie sind alle sehr leidenschaftlich für die Unabhängigkeit, weil sie hoffen, dass sich die Arbeitslage für junge Leute in einem autonomen Schottland verbessern wird. Die Arbeitslosenrate von Menschen unter 24 ist in Schottland seit 2008 um sieben Prozent gestiegen und damit höher als in England. Viele Studenten finden nach ihrem Abschluss keine Stelle, selbst wenn sie etwas Seriöses wie Ingenieurwissenschaften studiert haben.

Alle hoffen, dass sich nach dem Referendum etwas ändert. Keiner weiss, was passieren wird, aber wenn man sich Fortschritt wünscht, dann muss man manchmal ein Risiko eingehen. Ich werde für die Unabhängigkeit stimmen. Auch wegen der Party, die es dann geben wird."



"Es ist wie Schwangerwerden: Klappt schon!"

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Susan Armstrong, 34, lebt in Edinburgh und arbeitet beim British Council, einer Organisation für Internationale Beziehungen zwischen Großbritannien und anderen Ländern.

"Obwohl ich für eine international agierende Einrichtung arbeite, werde ich für die Unabhängigkeit Schottlands stimmen. Dabei haben mich vor allem konkrete Argumente überzeugt. Ich folge aber auch meinem Instinkt. Und der sagt mir, dass Schottland als Staat, der nicht von Westminster aus regiert wird, eine viel bessere Zukunft hätte.  

Denn die Menschen in Schottland ticken ein bisschen anders. Sie fühlen sich nicht von den Entscheidungen in London angesprochen. Sie haben das Gefühl, aus dem politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen zu sein. Ich denke, dass wir besser dran wären, wenn wir unsere eigenen Entscheidungen treffen könnten. Wenn ich an die Zukunft meiner einjährigen Tochter denke, möchte ich, dass sie die Möglichkeit hat, mehr Einfluss auf die Politik in ihrem Land zu nehmen.  

Unter meinen Freunden und Arbeitskollegen sind viele meiner Meinung. Es gibt aber auch viele, die die Abspaltung ablehnen. Auch in meiner Familie sind die Meinungen geteilt - obwohl die aus Aberdeen kommt. Früher war Aberdeen ein kleines Fischerdorf. Doch dann kam der Ölboom und mit ihm das Geld. Viele in Aberdeen arbeiten in der Ölindustrie und verdienen dabei sehr gut. Gerade die wollen natürlich, dass alles so bleibt, wie es ist. Die fühlen sich dem Rest von Schottland gar nicht zugehörig. Deshalb herrscht dort noch mal eine andere Mentalität als in anderen Teilen des Landes.  

Die Menschen, die dort mit nein stimmen, wollen kein Risiko eingehen. Das gilt auch für meinen Bruder und meine Schwester.  Sie wollen ihren Wohlstand nicht aufs Spiel setzen. Ein Freund hat einmal zu mir gesagt, dass deren Angst vergleichbar ist mit der Angst mancher Frauen, schwanger zu werden. Solche Frauen fragen sich, wie sie das alles schaffen sollen. Wenn es dann aber tatsächlich so weit kommt, finden sie einen Weg, um mit den neuen Herausforderungen klar zu kommen. So ähnlich würde es auch den Gegnern der Abspaltung gehen. Sie würden sich mit der neuen Situation arrangieren. Deswegen bin ich davon überzeugt, dass ein unabhängiges Schottland seinen Platz in der Welt finden und ein respektiertes Land werden würde."

"Es geht nicht um Abneigung gegen England"

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Michael Birnie, 34, kommt aus Aberdeen. Heute lebt er in London und arbeitet als Ingenieur in der Energiebranche.  

"Weil ich vor sieben Jahren nach England gezogen bin, kann ich bei der Abstimmung leider keine Stimme abgeben. Wahlberechtigt sind nämlich nur Leute, die in Schottland leben. Obwohl ich mich auch als Brite sehe, stelle ich mich Fremden immer als Schotte vor. Ich war lange Zeit unentschlossen, wenn es um die Frage nach der Unabhängigkeit ging. Ehrlich gesagt habe ich das Thema lange nicht ernst genommen. Ich dachte, dass sowieso gegen die Abspaltung gestimmt wird. Als ich aber anfing, mich näher mit den Argumenten beider Seiten zu beschäftigen, kam ich immer mehr zu der Überzeugung, dass es starke Gründe für eine Abspaltung gibt.

Die 'No'-Kampagne wirkt negativ und herablassend. Auch das war ein Grund für meinen Sinneswandel. Denn die Gegner der Unabhängigkeit haben alles versucht, um die Gegenseite schlecht darzustellen. Diese Taktik haben nicht nur britische Politiker, sondern auch die meisten Medien angewandt. Es wurde alles dafür getan, der 'Yes'-Kampagne zu schaden. Argumente pro Unabhängigkeit wurden absichtlich fehlinterpretiert. Es gab viele Lügen und Halblügen, die die Presse verbreitet hat. Dabei sollte der Eindruck entstehen, dass in der schottischen Unabhängigkeitsbewegung nationalistische und anti-englische Töne dominieren. Die Abneigung der Schotten gegen Engländer wurde als Hauptgrund für den Erfolg der Kampagne dargestellt.

Ich denke nicht, dass das richtig ist. Wie die meisten Schotten würde ich nicht aus nationalistischen Gründen für die Abspaltung stimmen, sondern aufgrund der politischen Realität. Ich bin gegen den Weg der Tory-Regierung. Normalerweise hat mir die Politik der Labour-Partei immer besser gefallen. Heute sehe ich nicht mehr viele Unterschiede zwischen den Parteien. Und ich habe nicht das Gefühl, dass die Schotten eine eigene Stimme haben oder großen Einfluss auf die nationale Politik Großbritanniens. Ich befürchte zwar, dass es nach einer Unabhängigkeit viele wirtschaftliche Umstellungen im Land geben wird. Deshalb könnten die ersten Jahre schwierig werden. Aber das wird sich bessern. Denn wir sind fähig, unsere Probleme selbst zu regeln."

Text: jetzt-redaktion - Protokolle von Alexander Gutsfeld (2), Matthias Ferdinand Döring und Corinna Guthknecht; Fotos: Matthias Ferdinand Döring, Corinna Guthknecht, privat (2)

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