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Klar rührt mich so was auch! Bilder, auf denen Soldaten ihren Frauen und Freundinnen vor den Kameras „Auf Wiedersehen“ sagen. Filme, in denen Paare sich tränen- und umarmungsreich auf dem Bahnsteig verabschieden. Ein Paar vor der Sicherheitskontrolle am Flughafen, das sich in den Armen liegt, bis einer von beiden gehen muss, in die kalte, profane Schleuse des Gürtelausziehens und Laptopauspackens, der Plastikwannen und Metallscanner. Zum Heulen ist das.

Aber gerade deswegen muss ich jetzt etwas sehr Unpopuläres tun. Nämlich gegen eine romantische Idee sein. Gegen das Die-Liebe-zum-Abfahrsort-bringen-und-da-noch-mal-herzen. Gegen das Jede-Minute-auskosten. Klar, alle wollen das, weil es sich irgendwie so gehört, weil man die Beziehung doch pflegen und begleiten muss wie ein Kind, das man ja auch zum Kindergarten bringt. Das als verwahrlost gilt, wenn man es alleine losschickt. Aber ich bin fest davon überzeugt: Wir könnten uns sehr viel Leid ersparen, wenn wir uns einfach nicht mehr gegenseitig zum Bahnhof brächten.

Ich führe seit Jahren eine Fernbeziehung. Das heißt: Ich muss mich seit Jahren ständig verabschieden. Muss einen wunderschönen Tag oder einen doofen Streit mittendrin abbrechen, weil der Zug halt fährt. Muss traurig sein und irgendwie umstellen auf Arbeitswoche und alleine schlafen. Die ersten ein, zwei Jahre haben mein Freund und ich getan, was Fernbeziehungspaare schon fast per Definition tun: Wir haben uns am Bahnhof abgeholt und begrüßt, wir haben uns wieder zum Bahnhof gebracht und verabschiedet. Das Abholen ist seltener geworden. Das hat oft Zeit- und „Du musst nicht extra kommen“-Gründe. Die Wiedersehensfreude schmälert es nicht – ich bin ja sowieso gut gelaunt, wenn ich ankomme, ob er nun auf dem Bahnsteig steht oder oben am Treppenabsatz seines Wohnhauses (eigentlich ist mir der Treppenabsatz sogar lieber, da stehen nicht so viele Leute drumherum).

Und irgendwann haben wir beschlossen, uns nicht mehr zum Bahnhof zu bringen. Weil das Gefühl so schrecklich ist. Weil es den kleinen, immer wiederkehrenden Kummer unnötig ausdehnt. Für beide.

Zum einen ist da der, der wegmuss. Bei mir stellt sich das Abschiedsgefühl schon etwa zwei Stunden vor Abfahrtszeit ein. Kopf und Herz wissen ja schon, dass es blöd sein wird, und testen schon mal an, wie sehr wohl diesmal. Die beste Methode ist es, sich abzulenken, irgendwas Schönes zu machen, um nicht in Abschiedslethargie zu verfallen. Wenn man aber gemeinsam zum Bahnhof fährt, einer mit Koffer, einer nur mit dem Haustürschlüssel in der Jackentasche, dehnt sich diese Lethargie. Da sitzt man nebeneinander und plaudert noch ein bisschen, aber so richtig viel kann man auch nicht mehr sagen – was, wenn man jetzt ein total gutes oder total schwieriges Gespräch anfängt, das man dann nicht zu Ende führen kann?

Und dann das schreckliche Rumgestehe auf dem Bahnsteig! Der Zug hat zehn Minuten Verspätung. Das sind keine zehn Minuten plus für die Beziehungszeit, das sind zehn quälende Warteminuten, in denen man ja schon alleine kaum etwas mit sich anzufangen weiß. Zu zweit hält man sich im Arm und weiß die ganze Zeit, dass man ja doch gleich loslassen muss – nur wann genau, das bestimmen allein die Streckenauslastung, das Triebwerk, die Weichen, vielleicht sogar das Wetter. Sie schreiben vor, wann es richtig wehtut. Wenn das aber schon immer wieder sein muss, will ich wenigstens selbst bestimmen können, wann genau.

Man steht inmitten von Trolleys und versucht sich an einem intimen Moment

Zum anderen ist da der, der dableibt. Sonntage, an denen der andere fährt, sind immer irgendwie abgebrochen, so mit fieser Kante, an der man sich schneiden kann. Am besten verabredet man sich mit jemandem zum Kaffee oder Kino, dann rutscht man sanfter in den Sonntagabend. Am besten verlässt man mit dem, der wegmuss, die Wohnung und geht irgendwo anders hin. Oder man sollte irgendwas Profanes tun. Spülen zum Beispiel, das Bett neu beziehen, Homeshopping, egal was. In jedem Fall aber nicht den anderen zum Bahnhof bringen. Nichts ist trauriger als die Rückfahrt vom Bahnhof mit noch frischem Abschiedsschmerz und das Nachhausekommen in die leere Wohnung, die eben gerade noch nicht leer war.

Und dann ist da noch das Abschiedsküssen auf dem Bahnsteig. Inmitten von anderen steht man da und versucht sich an einem intimen Moment. Am Küssen, das dort nie so schön und unverkrampft sein kann wie wenn man unter sich ist. Daran, noch was Nettes zu sagen, dem anderen noch irgendwas mitzugeben, während rechts und links aufgeregte Bahnreisende mit ihren Trolleys vorbeirennen, weil die Wagenreihung geändert wurde. Wie viel schöner, besser, langlebiger ist der Moment, wenn man ihn zu Hause hat. Wo es still ist und warm, wo man gerne ist, wo einem keiner zuschaut und auch ganz, ganz sicher niemand die Wagenreihung ändert.

Darum will ich alleine zum Bahnhof fahren. Mir dort eine Butterbreze und eine Zeitung kaufen, mich mental auf die Reise vorbereiten, indem ich kalkuliere, wo ich am besten einsteige, um einen guten Sitzplatz zu bekommen, und in der Bahn-App nachschaue, ob die Anschlusszüge pünktlich sind. Darum will ich, andererseits, nicht mit zum Bahnhof fahren, sondern mich mental auf die Woche vorbereiten, indem ich durchsauge oder jemanden treffe, der hier wohnt. Das große Küssen auf dem Bahnsteig, die Bilderstrecken, die dramatischen Abschiedsszenen, die sind gut für Fotostrecken und Hollywoodfilme. Für jahrelang jedes Wochenende taugen sie nicht. Gedehnter, ausgelebter Abschiedsschmerz kann aufregend und romantisch und irgendwie wohltuend sein, weil er einem sagt, wie viel einem aneinander liegt. Aber auf Dauer ist er einfach nur scheiße. Wie ein Pflaster, das man ganz langsam vom Knie zieht. Mama hat einem ja schon gesagt, dass einmal kurz und feste reißen besser ist.

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