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Der Alte

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Es war in der elften Jahrgangsstufe, als Dose zu uns in die Klasse kam. Ich hatte immer gedacht, Dose sei sein Nachname. Als die Lehrerin jetzt seinen wirklichen Namen von der Klassenliste ablas, merkte ich, dass das gar nicht stimmte. Er erklärte mir später, Dose sei sein Spitzname, weil es eine Phase in seinem Leben gab, in der er sehr viel Dosenbier getrunken hatte.

Ich war beeindruckt. Vom Dosenbier, aber natürlich auch von seiner Formulierung: „eine Phase in meinem Leben“. Das klang sehr erwachsen. Als ich das nächste Mal mit meiner Clique an den See ging, packte ich Dosenbier ein. Die Mädchen fanden das gut.  

Schon an diesem ersten Tag habe ich also etwas von Dose gelernt. Zugegeben, es war keine der Premiumlektionen meines Lebens. Aber in der zehnten Klasse war ich über jedes Quantum Eindruck, das ich bei Mädchen machen konnte, froh.   

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Keine Ahnung, ob alle Klassenältesten so cool aussahen. Aber man konnte einiges von ihnen lernen.

Dose war drei Jahre älter als der Rest der Klasse. Er war später eingeschult worden, zwei Mal sitzengeblieben, außerdem hatte er irgendwann noch ein Schuljahr verloren, weil er ein Jahr in den USA verbracht hatte. Dose war eine Bereicherung für unsere Klasse. Vielleicht nicht, was unsere Fähigkeiten in Kurvendiskussionen, Verbkonjugation oder generell Disziplin anging - seine Beiträge zum Unterricht beschränkten sich auf Widerworte gegen Lehrer und unverschämte Witze. Aber von Dose lernte man viel über das Leben.  

Ich erzähle das, weil gerade wieder eine Diskussion beginnt, die schon oft geführt wurde und wohl noch oft geführt werden wird. Am heutigen Dienstag werden in Bayern Zeugnisse verteilt. Auf etwa 30.000 dieser Zeugnisse wird Schätzungen zufolge stehen, dass der Schüler das "Klassenziel nicht erreicht" hat. Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrerverbands, plädierte am Wochenende dafür, das Durchfallen komplett abzuschaffen. Wenzel hat gute Argumente im Gepäck, seine Gegner auch. Wer aus rein pädagogoischer Sicht Recht hat, soll hier nicht beurteilt werden. Fakt ist: Könnte niemand mehr durchfallen, wäre die Klassengemeinschaft, die ja immer eine Art Theater ist, um eine Hauptrolle ärmer - um den durchgerasselten Klassenältesten. Um jemanden also, der einem die Dinge beibringt, die einem zu der Zeit wirklich wichtig sind.

Der Sitzengebliebene - das Bindeglied in die Welt der älteren Schüler


Wenn man ein Teenager ist, sind drei Jahre ein ziemlich großer Unterschied. Man spricht als 15-jähriger nicht mit einem 18-Jährigen aus der Kollegstufe, es sei denn, man bettelt um die Rückgabe seines Turnbeutels. Mit dem Klassenältesten aber ist plötzlich jeden Tag einer aus dieser fremden Gruppe der Älteren da. Er ist das Bindeglied in deren Welt, er hilft einem über unsichtbare Grenzen hinweg. Auf dem Schulfest kann man neben ihm stehen, wenn er mit dem Mädchen spricht, das zwei Klassen über einem ist. Wenn man mit ihm am Kiosk steht, wird man nicht sofort von den breitschultrigen Jungs aus der Oberstufe weggedrängt. Der Klassenälteste weiß, wie man den Kronkorken des Paulanerspezi mit einem Textmarker an die Decke schießen kann.

Das alles heißt natürlich nicht, dass alle mehrfach sitzengebliebenen Klassenältesten tolle Hunde waren. Auch Dose war nicht immer die Hilfsbereitschaft in Person. Er gab uns Jüngeren nicht jeden Tag Unterricht in Coolness. Manchmal war er einfach ein mies gelaunter Typ, der bekifft in der letzten Reihe saß und nichts auf die Reihe bekam. Im Nachhinein muss man auch sagen: Dose blieb Klischee-Problemschüler. Er brach sein Studium ab, und wäre er nicht irgendwann im Betrieb seiner Eltern untergekommen, wäre er vermutlich ein Sozialfall geworden.

Trotzdem: Damals war er für uns eine wichtige Instanz. Von Dose konnte man lernen, einfach weil er drei Jahre älter war. Er wusste und durfte schon so viel mehr, dass es schon reichte, ihn um sich zu haben und zu beobachten. Er zeigte uns jeden Tag, was für einen Unterschied drei Jahre machen konnten. Was uns in der Zukunft erwartete. Er machte schon in der elften Klasse bei der Bundestagswahl ein Kreuz und fuhr irgendwann mit dem Auto vor die Schule. Er erzählte von einem Freund, der unzufrieden mit seinem Medizinstudium in Berlin war, als ich gerade mal damit begonnen hatte, mir über die Wahl der Leistungskurse Gedanken zu machen. Meine Probleme erschienen mir danach lächerlich kindisch.

Von Dose hörte ich zum ersten Mal, dass es das Atomic Café und den Wu-Tang Clan gibt. Er machte mir bewusst, dass es langsam Zeit sein könnte, andere Lieblingsbands zu haben als die Guano Apes. Aus seinen hartnäckigen Attacken gegen unsere Lehrer lernte ich, wie man sich auch gegen überlegene Autoritäten durchsetzen kann. Er war Stylepolizei und Vermittler der Regeln im täglichen Kampf ums Cooler-sein-als-die-anderen. Er war eine Art großer Bruder, den ich nicht gehabt hätte, wenn das Sitzenbleiben nicht existiert hätte.


Text: eric-mauerle - Foto: dpa

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