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Das Trauerhaus Teil 1

Text: SofiaKorksenzieher

Im Haus herrschte Totenstille. Paula bewegte sich wie in Zeitlupe durch die leeren Räume, sie lief auf Zehenspitzen, versuchte unsichtbar zu sein für ihren Vater, der wie ein Hausgeist stumm und un­beweglich in seinem Arbeitszimmer saß. Draußen fiel der Regen und die Feuchtigkeit schien sich in ihrem Körper einzunisten. In ihrem Kopf rasten tausend Gedanken, verknoteten sich, wurden mürbe und fransig und hinterließen nichts als ein dumpfes Pochen. Es wurde nicht viel geredet in diesen Tagen, die Zeit tropfte zäh von den Wänden.



Gestern waren sie zum Wirtshaus im Ort gefahren und hatten mit den Besitzern das Menü für den Leichenschmaus besprochen. Es war unangenehm gewesen, für alle Beteiligten. Die Frage, ob es Schweine- oder Rinderbraten geben sollte, hatte wie ein Fremdkörper in der Absurdität der Trauer gewirkt. Mit versteinerten Minen waren sie in der Gaststube gestanden, hatten Beileidsbekundun­gen über sich ergehen lassen und genickt und den Kopf gesenkt und vermieden, sich in die Augen zu sehen. Auf der Fahrt zurück hatten sie geschwiegen. Paula hatte aus dem Fenster gesehen. Der triste Januar war in seiner ganzen Hässlichkeit an ihr vorbei gefegt und schien alles Schöne ausgelöscht zu haben. Die Stadt hatte verschlafen dagelegen, der Winter hatte ihre Türen verrammelt.



Paula betrat die Terrasse über die Tür im Wohnzimmer. Sie war froh, dass sie nicht durch das Arbeitszimmer ihres Vaters musste. Sie zündete sich eine Zigarette an und zog sich den Mantel enger an den Körper. Das Geräusch des Regens auf nassem Gras hallte in ihrem Kopf. Kein Vogel zwitscherte, kein Auto fuhr vorbei. Es gab nur Regen und Wind und das Zischen der Glut, wenn sie an ihrer Zigarette zog. Sie fragte sich, ob es jetzt weitergehen würde. Natürlich würde es das, aber wie?! Ihr Vater war schon seit Monaten nur noch ein Schatten seiner selbst und seit diesem schwarzen Freitag vor vier Tagen schien es, als würde er stetig transparenter werden. Er aß kaum etwas und er schlief schlecht, die Ringe unter seinen Augen trugen Zeugnis davon. Sie blickte durch das Fenster ins Haus. Im Wohnzimmer stand noch immer das Pflegebett, leer und mit ordentlich gefalteter Bettwäsche darauf. Sie hatte vergessen, wann es abholt werden sollte, aber sie hoffte, dass es bald geschehen würde. Sie konnte es nicht ansehen und schaute immer zur Seite, wenn sie daran vorbei ging.



Freitag früh hatte zuletzt jemand darin gelegen. Mit eingefallenen Wangen und nur an der Schwelle zum Wachsein, klein wie eine Puppe. Es war ihr schwer gefallen zu atmen, sie hatte Schleim in den Lungen gehabt und hatte geröchelt. Die letzte Runde im Kampf gegen einen unwiderruflichen Tod war längst eingeläutet und jeder hatte es gewusst. Paula war es in diesen Tagen schwer gefallen, das Zimmer zu betreten. Es hatte faulig gerochen und nach Angst, sie hatte ein Fenster aufreißen wollen, um den Gestank zu vertreiben und mit ihm den Tod. Aber er war längst in jede Ecke des Raumes gekrochen, saß auf dem Klavier, die Beine baumelnd, und lachte. Und als sie am Freitag nach der Schule bei Lukas in der Küche gesessen hatte, hatte sie nicht damit gerechnet, dass er so schnell seine Sense ausfahren würde. Ihr Vater hatte sie auf dem Handy angerufen. Zuerst hatte sie den Grund seines Anrufs nicht verstanden oder wollte ihn nicht verstehen, bis ihr Vater gesagt hatte, dass es passiert sei, zur Mittagszeit und dass sie heute noch nicht nach Hause kommen solle, erst am nächsten Tag. Sie hatte nur „ok“ gesagt und aufgelegt, hatte wie versteinert dagesessen, während die ersten Tränen sich den Weg durch ihren Körper gebahnt hatten und ihr übel wurde. Ihre Mutter war gestorben. Jetzt war sie eine Halbwaise.

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