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Was hätte Walter Benjamin zu "Spotify" gesagt? - An die Musiker

Text: Bartley

Was hätte Walter Benjamin zu „Spotify“ gesagt



 



Es ist heute ganz normal für uns, dass wir beinah jedes Musikstück mit fast jedem Interpreten irgendwo hören können. Vor allem haben wir diese Möglichkeit seit es „Spotify“ gibt. Ich bin selbst begeistert davon und will hier auch keine Kritik an diesen Möglichkeiten üben. Allerdings will ich diese Thematik mit einem Essay von Walter Benjamin[1] aus dem Jahr 1935 verbinden, um zu sehen, ob unsere heutige Art des Musikhörens oder auch anderweitigen Kunstgenusses nach seiner damaligen Sicht kritisch betrachtet werden würde.



Der Essay heißt „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und wird als „Meilenstein in der philosophischen Ästhetik“ bezeichnet. Wie der Titel schon erklärt, kommt Walter Benjamin auf die Reproduktion von Kunst zu sprechen, welche wir auch in Aufnahmen und deren Vervielfältigung von Musik erkennen können.



Er beginnt damit, alte Arten der Kunstreproduktion aufzuzählen: Guss, Prägung, Holzschnitt, Druck, Kupferstich, Lithographie. Im 19. Jahrhundert kommt eine heute für fast jedermann zugängliche Form auf: die Fotografie, die mit ihrer Schnelligkeit und Genauigkeit die Lithographie als Reproduktionsmittel überholte.



Sehr bald kommt Walter Benjamin zu der Frage, was den Unterschied einer Reproduktion zu einem Original ausmacht: es sind das „Hier und Jetzt“, die „Einzigkeit“ und die „Echtheit“ eines Kunstwerks.



Nehmen wir uns zum Beispiel die Büste der Nofretete aus dem Neuen Museum Berlin: es gibt unzählige Abbildungen auf Postern, Postkarten, Plakaten, und man kann sogar eine genaue Gipsnachbildung kaufen. Doch wenn man schließlich ins Museum geht und sich das Original ansieht, bekommt man natürlich ein anderes Gefühlt. Dieses Original ist wirklich aus dem Alten Ägypten und einzigartig und echt und steht im „Hier und Jetzt“ vor meinen Augen und ist irgendwie auch noch schöner als alle Abbildungen, die ich bisher gesehen habe.



Dieser besonderen Wirkung, die ein originales Kunstwerk auf den Betrachter ausstrahlen kann, gibt Benjamin den Begriff „Aura“. Ein originales Kunstwerk hat also eine gewisse Aura.



Ist es bei technischen Reproduktionen nicht der Fall? Seiner Meinung nach nicht, da eben diese „Einzigkeit“ fehlt. Ich denke, dass eine technische Reproduktion beispielsweise der Nofretete auch eine Aura haben kann, sobald man mit dieser etwas verbindet. Es kann ein Geschenk sein oder eine Erinnerung an einen Ausflug bedeuten, und dann hat auch eine solche reproduzierte Büste eine Aura, weil sie etwas Individuelles besitzt.



Ich will nun aber auf die technische Reproduktion von Musik zu sprechen kommen.



Wenn wir in ein Konzert gehen oder auch nur jemandem beim Üben zuhören, kann es schon ein ganz besonderes Erlebnis sein. Wie Benjamin könnte man diesen Momenten „Einzigkeit“ und „Echtheit“ zuschreiben, außerdem passiert diese Musik im „Hier und Jetzt“. Man ist bei der Entstehung der Musik dabei, und es könnte jederzeit etwas passieren, das die Musik zum Verklingen bringen könnte, wie zum Beispiel eine reißende Saite, das Blackout eines Musikers. Diese Spannung, die dadurch entsteht, trägt möglicherweise zu dieser „Aura“ bei.



Wie ist es bei Aufnahmen? Außer bei Live-Übertragungen sind Aufnahmen nicht wirklich im „Hier und Jetzt“. Außerdem können sie verbessert und vervielfältigt werden, und verlieren so ihre „Einzigkeit“ und einen Teil der möglichen Spannung (die durch Angst vor dem Scheitern entstehen mag).



Wie ich bei der Nofretete vorhin schrieb, dass auch eine Abbildung eine Aura ausstrahlen kann, ist das sicherlich auch bei reproduzierter Musik der Fall. Eine alte Schallplatte kann heutzutage eine wirkliche Aura besitzen, wenn man mit ihr eine Geschichte verbinden kann. So hat sie die Möglichkeit, auf ihre Weise einzigartig zu sein, nicht zuletzt durch individuelle Kratzer.



Bei „Spotify“ sehe ich das anders. Man kann fast alles hören, was sehr praktisch sein kann und gewissermaßen ein Luxus. Der Hörer kann tausend Interpreten vergleichen, und rare Aufnahmen werden leicht zugänglich. Dafür braucht man nur einen Internetanschluss.



Nach Benjamins Sicht kann man dieser Art des Hörens von Musik wohl weniger eine auratische Wirkung zuschreiben. Sie kann millionenfach in jede Spotify-Bibliothek kopiert werden und verliert also eindeutig eine „Einzigkeit“ und ein „Hier und Jetzt“.



Ich will an diesem Punkt eine Textstelle aus Hermann Hesses „Der Steppenwolf“ (1927) vorstellen, die ein Gefühl zum Beginn der Zeit der technischen Reproduktion von Musik gut darstellt:



„Man werde, vielleicht schon sehr bald, entdecken, dass nicht nur gegenwärtige, augenblickliche Bilder und Geschehnisse uns beständig umfluten, so, wie die Musik aus Paris und Berlin jetzt in Frankfurt oder Zürich hörbar gemacht wird, sondern dass alles je Geschehene ganz ebenso registriert und vorhanden sei und dass wir wohl eines Tages, mit oder ohne Draht, mit oder ohne störende Nebengeräusche, den König Salomo und den Walther von der Vogelweide werden sprechen hören. Und dass dies alles, ebenso wie heute die Anfänge des Radios, den Menschen nur dazu dienen werde, von sich und ihrem Ziele weg zu fliehen und sich mit einem immer dichteren Netz von Zerstreuung und nutzlosem Beschäftigtsein zu umgeben.“[2]



 



Mit der Möglichkeit der technischen Reproduktion von Musik und Kunst allgemein wurden sicherlich viele Vorteile geschaffen, da einem sonst viele Werke für immer verwehrt bleiben würden. Trotzdem finde ich, dass der Begriff der „Aura“, den Walter Benjamin vor etwa achtzig Jahren einführte, immer wichtiger wird. Es wird für mich klar, dass das Sehen, Hören oder Erfahren eines Originals niemals durch eine Reproduktion in seiner ganzen Fülle kopiert werden kann. Und vor allem wir als Musiker können sehr glücklich darüber sein, dass wir die Möglichkeit haben, in Konzerten oder auch im privaten Kreis, diese „Echtheit“ und das „Hier und Jetzt“ weitergeben und auch selbst genießen zu können.



Die ganze Idee des Verfalls der Aura bei technischer Reproduktion hängt möglicherweise mit der propagandistischen Benutzung von Film und Foto im Nationalsozialismus und Stalinismus (hier vor allem Ikonen und Büsten) zusammen, die von Benjamin richtigerweise als gefährlich und schändlich erkannt wurde. Er wusste, dass auch ein Film oder ein Foto eine Wirkung auf den Betrachter haben kann und noch dazu durch Vervielfältigung eine große Masse erreichen kann. Daher wollte er einen neuen Begriff für die Kunstwelt schaffen, der ein Kunstwerk davon distanzieren könnte, und das war für ihn der Begriff der Aura.



Ich empfehle jedem die Lektüre dieses Essays. Er ist klar aufgebaut und nicht unnötigerweise kompliziert geschrieben. Außerdem werden noch viele andere interessante Aspekte wie die Filmproduktion und der daraus entstehende Starkult behandelt, die ich hier nicht besprochen habe.




[1] Walter Benjamin, 1892 in Berlin geboren, musste als Jude in den 30er Jahren im Pariser Exil leben, wo er auch diesen Essay verfasste.



[2] Hermann Hesse, „Der Steppenwolf“: S. 135

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