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Weihnachten im Twitterwald

Text: LeoVidLiv
Weihnachten - für mich, die ich als der unromantischte Mensch gelte, denn die meisten meiner Freunde kennen, nahe dran am Spießrutenlauf. Von all den hoffnungslosen Romantikern alle Jahre wieder gezwungen, sich über den Striezelmarkt zu wälzen, geschoben von Menschen im Glühwein- bzw. Kaufrausch durch ständig wechselnde Geruchswolken - mmhh Crêpes, uäh Pferdefleisch..

Auch die alljährliche Weihnachtsbäckerei (pro Minute ungefähr 10 identische Posts mit identischen Bildern von identischen Plätzchen auf Facebook) stand wieder an.
Klar man liebt seine Freunde und fern der Familie in der Heimat verbringt man den 1. Adventssonntag am liebsten mit seiner selbst erwählten Familie zum Backen, Basteln und immer die positiven Seiten sehen: Glühwein trinken und besoffen in der Ecke kullern.
Ironie des Schicksals: ausgerechnet die beiden größten Romantiker (Achtung, Ironie!) unserer kleinen Familie waren es, die letzten Endes in der Küche standen, auf zwei massiv gefrorene Teigklumpen eindroschen und mit viel Liebe, aber noch mehr Unlust versuchten Weihnachtswichtel, Schneeflocken und Delphine unverletzt und ohne den Verlust von Gliedmaßen aus dem ausgerollten Teig zu befreien.
Während der romantische Teil unserer Gesellschaft im Esszimmer die schwarzen Plätzchen verzierte, leerten wir einen Glühwein nach dem anderen, hämmerten Teig und verarzteten die amputierten Plätzchen.
Für unsere Verhältnisse geradezu euphorisch nahmen wir uns einen neuen Teigklumpen vor. Geglättet von unseren Fäusten und diversen angestauten Aggressionen lag er vor uns der Teig. Meine werte Gefährtin nahm mit so viel Liebe wie ihr nur gerade möglich eine schlittenförmige Plätzchenform und rammte sie in den Teig.
"So Leo." meinte sie, "Jetzt erzähl mal 'ne Geschichte zu dem Schlitten. Und dann stichst du ein Plätzchen aus, mit dem ich die Geschichte weiter spinnen muss. Wie bei Seemannsgarn."
Wer hätte je gedachte, dass zwei Weihnachtskritiker unter dem Einfluss von Glühwein tatsächlich unter der Zuhilfenahme von Plätzchenformen eine weihnachtliche Geschichte aus einem Plätzchenteig zaubern könnten? -Weihnachten im Twitterwald lautet der Titel.

Form 1: Der Schlitten
Es war an einen zauberhaftem Winternachmittag. Schnee rieselte von den Ästen der Bäume, die Sonne glitzerte im Weiß und die Meisen flatterten zwischen ihren Nestern und den Meisenknödeln vor den Fenstern. Da stapfte ein kleiner Junge im Winterwald mit seinem Schlitten im Schlepptau durch den tiefen, tiefen, tiefen, tiefen, tiefen, tiefen, tiefen Schnee.

Form 2: Die Blume
Er kämpfte sich weiter, durch den knietiefen Schnee. Seine Hosen sogen sich voll und wurden kalt und steif. Er stapfte weiter. Und weiter. Plötzlich verharrte er. Vor ihm im tiefen, tiefen, tiefen, tiefen Schnee, da sah er: eine Blume.

Form 3: Der Pliz
Direkt daneben lag ein toter Pilz.

Form 4: Die Schneeflocke
Ganz plötzlich schoss aus dem toten Pilz eine Schneeflocke dem Jungen mitten ins Gesicht. Er war wie vom Donner gerührt.

Form 5: Der Delphin
Er erstarrte. Die Schneeflocke begann in seinem Gesicht zu schmelzen. Wie damals im Sommer sein Cocktail am Strand von Miami Beach. Seine Gedanken wanderten. Zu diesem Cocktail in Miami Beach, den er mit seinen... sechs Jahren in der Hitze Floridas genoss, während sich im Wasser die Delphine tummelten.

Form 6: Die Wichtelfrau
Er besann sich wieder. Er stapfte weiter. Doch schon bald musste er feststellen: er hatte die Orientierung verloren. "Hä?!" (fragte eine unsere romantischer Freundinnen bei ihrem kurzen Besuch in der Küche und gab unserem Helden eine Stimme.) Also "Hä?!" fragte sich der Junge. "Wo zur Hölle bin ich? Wo muss ich hin?" Er hatte keine Ahnung und glaubte sich verloren.
"Hallo, junger Mann!" rief ihm eine Wichtelfrau zu, die hinter einem Baum hervortrat.

Form 7: Der Mond

"Kleiner Mann? Wer ist hier klein, hä? Du kleiner Wicht."
"Oooh, der Herr fühlt sich wohl auf den Schlips getreten. Also gut. Ich nehme an er braucht Hilfe, der JUNGE Mann?"
"Ich find' nicht mehr nach Hause.."
"Null Problemo. Folge einfach dem.. Mooooooooooooond." sprach sie und verschwand wieder hinter dem Baum.

Form 8: Der Wichtel

Der Junge nahm sich den Rat der Wichtelfrau zu herzen und stapfte weiter. Immer dem Mond nach. Er stapfte und stapfte bis er schließlich Halt machen musste. Vor der Tür eines Nachtklubs. Davor stand ein Wichtel in einer schwarzen Lederjacke, mit einer schwarzen Sonnenbrille und einer Wichtelmütze auf dem Kopf. Unter dem Arm hatte er ein Klemmbrett.
"Du gommst hier ned rein." sagte er.
"Aber ich muss doch." sprach der Junge. "Ich muss doch dem Mond folgen."
"Mir doch egal! Heul leise!"
"Aber die Wichtelfrau hat doch gesagt, ich muss immer dem Mond folgen! Sonst komm ich nicht nach Hause!"
"Na und?! Du musst doch nicht immer alles glauben, was die Wichtelfrau labert, ey! Die Wichtelfrau is' voll die Schlampe, ey. Du muss bloß grade aus laufen, Mann! Dann kommste auch irgendwann zur Hauptstraße. Kannst ooch außen rum loofen, Spast!"

Form 9: Der Vogel
Der Junge tat wie geheißen, stapfte um den Nachtklub herum und lief immer gerade aus. Schon bald hörte er die Haupstraße rauschen. Er trat aus dem Winterwald und schlug die Richtung nach Hause ein. Er zückte sein Smartphone, welches keine Navigationsfunktion hatte, welche ihn aus dem Winterwald hätte lotsen können, dafür aber eine Twitter-Applikation und streifte er seine Handschuhe von den Händen, ließ sich auf seinem Schlitten nieder und twitterte: "Die Wichtelfrau is ne #Schlampe, ey!"

In diesem Sinne, auf eine besinnliche Zeit.

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