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„Und wenn ich mit meinem Leben dafür bezahlen muss“

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Am Sonntag hat er eine Pizza und ein Bier bekommen, tags zuvor etwas Schmelzkäse, abgepackt in dreieckigen Portionen. Auch Kaffee, Zigaretten, Wein, Joghurt und Müsli hat Adel Almi bereits erhalten. Auf der Facebook-Seite „Fotos, die während des Ramadan aufgenommen werden, für Adel Almi“ posten junge Tunesier seit Tagen Fotos, auf denen sie beim Essen, Trinken oder Rauchen zu sehen sind. Sie reagieren damit auf den Aufruf des salafistischen Predigers Adel Almi, alle Menschen, die den Ramadan nicht achten, zu fotografieren und im Internet an den Pranger zu stellen. Die Facebook-Aktion hatte enorm an Popularität gewonnen, seit die Bloggerin Lina Ben Mhenni am vergangenen Donnerstag dort ein Bild einstellte.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Lina ist die mutige weibliche Stimme der tunesischen Revolution. Die Internetaktivistin, die an der Universität Tunis als Dozentin und Übersetzerin arbeitet, war 2011 auf die Straße gegangen und hatte von dort berichtet, wo die Presse keinen Zugang hatte. Ihr Blog „A Tunisian Girl“ hat entscheidend dazu beigetragen, den Diktator Ben Ali zu stürzen. Lina wurde für den Friedensnobelpreis nominiert und mit dem Blog-Award der Deutschen Welle ausgezeichnet.  

„A Tunisian Girl“ ist heute noch ein wichtiges Nachrichtenforum der arabischen Oppositionsbewegung. Denn zweieinhalb Jahre nachdem die Tunesier den arabischen Frühling losgetreten haben, ist die Ernüchterung massiv. Mehr noch, in einem Land, das sich als demokratisch definiert, müssen Menschen, die für ihre Freiheitsrechte einstehen, heute wieder um ihr Leben fürchten.  

jetzt.de: Lina, geht Tunesien gerade einen weiteren Schritt in Richtung Islamisierung?
Lina Ben Mhenni: Die Gefahr besteht, und wir werden alles tun, um das zu verhindern. Die Extremisten bedrohen unsere Freiheiten. Und damit ein Staatswesen, das sich als laizistisch begreift. Sie wollen uns ihre Version des Islam aufdrängen, eine engstirnige, extremistische Sichtweise, die auf Ignoranz und Frustration beruht. Man muss ihnen sagen: Stopp! Die Revolution ist noch nicht vorbei.  

Welche Rolle spielt die Regierung?
Die aktuelle Regierung ist total inkompetent. Sie soll abhauen. Sie erweckt nicht den Eindruck, sich für die Ziele der Revolution einzusetzen. Und das, obwohl einige ihrer Landsleute ihr Leben dafür geopfert haben. Die aktuellen Machthaber machen genau das Gleiche wie ihre Vorgänger: Sie plündern das Land aus. Und dann wollen sie uns auch noch unsere Freiheiten nehmen. Der eigentliche Wahnsinn ist ja, dass die aktuelle Regierung eigentlich für nur ein Jahr eingesetzt wurde, um eine neue Verfassung auf den Weg zu bringen. Sie ist also mittlerweile illegitimerweise an der Macht.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Eure Freiheitsrechte seht ihr aktuell dadurch bedroht, dass Adel Almi dazu aufrief, Fastenbrecher an den Pranger zu stellen. Welche Legitimation besitzt er?
Eigentlich hat Adel Almi nichts zu melden in Sachen Religion und Islam. Er ist kein Geistlicher. Seinen Nachbarn und den Menschen in seinem Viertel zufolge war er ein einfacher Gemüsehändler, der bekannt dafür war, aggressiv und unfreundlich zu sein. Woher bitteschön nimmt er das Recht, dazu aufzurufen, Menschen, die das Fasten brechen, an den Pranger zu stellen? Ich sehe nicht ein, dass jemand wie er uns lehrt, wie wir unsere Religion zu leben haben, oder uns einen Verhaltenskodex vorgibt. Niemand hat das Recht, eine Drohung dieser Art auszusprechen. Ob man den Ramadan begeht oder nicht, ist eine persönliche Entscheidung jedes Tunesiers. Wir brauchen keinen Vermittler zwischen uns und Gott. Und außerdem haben auch Menschen, die nicht an Gott glauben und keine Muslime sind, das Recht, friedlich in Tunesien zu leben.  

Bist du praktizierende Muslimin?
Normalerweise beantworte ich diese Frage nicht, denn der Glaube ist für mich eine sehr persönliche Angelegenheit. Aber in diesem Fall: Ja, ich bin Muslimin! Ich praktiziere meine Religion nicht, aber ich bin mit den Werten eines moderaten Islam aufgewachsen: Ich stehle nicht, ich bringe niemanden um, ich lüge nicht und schade niemandem. Ich versuche, meinen Mitmenschen zu helfen, soweit dies in meiner Macht steht. Für mich bedeutet der Islam Maßhalten und Toleranz.  

Wie hältst du es mit dem Ramadan?
Ich bete nicht und ich halte mich auch nicht an den Ramadan. Gott allein soll mich dafür richten – aber ganz bestimmt nicht jemand wie dieser Adel Almi. Der Islam ist für mich eine friedliche, liebevolle, zutiefst humanistische Religion mit einem gnädigen Gott.  

Hat die Tatsache, während des Ramadan zu essen, zu trinken oder zu rauchen, durch die Drohung Adel Almis eine neue, eine politische Dimension erlangt?
Diese ganzen selbsternannten Moralapostel haben tatsächlich eine freie Entscheidung gläubiger Menschen – essen oder nicht essen, trinken oder nicht trinken – in einen Akt des Widerstands verwandelt.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Wie geht die Gesellschaft denn normalerweise mit den Fastenbrechern um?
Wir sind ein mehrheitlich muslimisches Land. Es gibt viele Leute, die den Ramadan praktizieren, obwohl sie normalerweise Alkohol trinken und nicht beten. Und jene, die wie ich nicht mitmachen, nehmen Rücksicht darauf. Cafés und Restaurants bleiben geöffnet, aber die Türen stehen nur halb offen. Wir kleben die Fenster von innen mit Zeitungspapier ab, um denen, die sich an den Ramadan halten, Respekt zu zollen.  

Was sagt es über die Situation in Tunesien aus, dass man für essen, trinken und rauchen an den Pranger gestellt werden soll?
Adel Almi ist ein Opportunist, der den Islam für politische Zwecke instrumentalisieren will – wie fast alle Islamisten. Aber auch, wenn die Situation gerade echt mies ist und wir die wahren Ziele der Revolution aus den Augen verloren haben, bin ich noch immer davon überzeugt, dass es einen Wandel geben wird – einen positiven! Solange hier Menschen leben, die nicht still halten und die an die Freiheit und Demokratie glauben, lassen wir uns die Hoffnung nicht nehmen.  

Als du dich an dem Facebook-Aufruf beteiligt hast, sind dir Dutzende Menschen gefolgt. Bist du eine Meinungsmacherin geworden?
Die Foto-Aktion war nicht meine Idee, aber ich habe als eine der Ersten mein Foto hochgeladen. Das hat die Menschen aus ihrer Schockstarre gerissen und ihnen die Zungen gelöst. Insofern: Ja, ich bin zu einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens geworden. Ich habe Tausende Follower in sozialen Netzwerken – und darunter nicht nur Freunde. Was ich sage, polarisiert die Menschen. Die einen unterstützen mich, die anderen verunglimpfen mich.

Fühlst du dich in Tunesien bedroht?
Ich erhalte Drohungen, ich werde diffamiert, aber ich habe nicht das Gefühl, in Gefahr zu schweben. Für das, was ich tue, stehe ich ein. Ich bin zu allem bereit  - und wenn ich mit meinem Leben dafür bezahlen muss.

Text: sandra-zistl - Fotos: www.facebook.com/pages/Photos-prises-durant-Ramadan-chmeta-fi-Adel-Almi/295136230632655, www.facebook.com/leena.benmhenni

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