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Die Grünen und die Türkei: Fakten oder Gefühlspolitik ?

Text: Bilgin76
Liebe Claudia Roth, lieber Cem Özdemir und liebe Grüne,

seit Jahren bekommen Sie bzw. Ihre Partei ein Großteil unserer Wählerstimmen. Wir schätzen Sie als eine Partei, die auch an die vielen Menschen ohne Stimme denkt, die Politik für die Schwachen und Ausgegrenzten in unserer Gesellschaft machen will und nicht über sie hinweg,  und mindestens genauso wichtig wie Umweltfragen sind noch Ihre Migrantenpolitik sowie Ihr Demokratie- und Teilhabeverständnis als Faktoren für die Migrantencommunities.

Ihr kritischer Blick auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen im Ausland ist auch grundsätzlich begrüßenswert – natürlich vorausgesetzt, Sie verfügen über die Fähigkeit, die Lage richtig einzuschätzen. Genau der Mangel an dieser Fähigkeit verunsichert aktuell allerdings viele Wähler mit Migrationshintergrund.

Grüne Solidarität mit der Opposition

Sie organisieren Mahnwachen in deutschen Städten, sie schicken Ihren Vorsitzenden Özdemir nach Istanbul und unterstützen, wohlwissend,
dass es sich nur vordergründig um Umweltschutz handelt, aktiv durch ihre Präsenz die zum Teil gewalttätigen Proteste in Taksim. Sie ergreifen in einem innenpolitischen Machtkampf Partei. Viele Migranten stehen jedoch den gewalttätigen Protesten kritisch gegenüber. Im Gegensatz zu Ihnen sehen viele, dass die sehr heterogene Gruppe der Demonstranten nur die politische Abneigung gegen die AKP-Regierung vereint. Doch einer gewaltsamen Herbeiführung eines Regierungswechsels steht eine absolute Mehrheit der türkischen Bevölkerung im In- und Ausland entgegen.

Alter Machtkampf zwischen den Kemalisten und der AKP

Eigentlich geht es hier um den Machtkampf der alten kemalistischen Eliten gegen die regierende Partei AKP. Seit der Wahl dieser Partei an die Staatsspitze hat es immer wieder gut organisierte Versuche gegeben, die demokratisch gewählte AKP auf undemokratische Art zu stürzen. Die Militärs haben mit Drohbriefen versucht, aktiv in die Politik einzugreifen, die Staatsanwälte haben ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet, im Gefolge von Demoveranstaltungen („Cumhuriyet Mitingleri“) wurden vergeblich Umsturzversuche vergeblich initiiert. Der Istanbuler Protest ist möglicherweise der letzte Akt in diesem Spiel. Die von Umweltschutzaktivisten gestartete Protestaktion wurde von der alten kemalistischen Elite vereinnahmt und in einen Anti-Erdoğan-Protest gewandelt.

“Schleichende Islamisierung“: Reale Gefahr oder Hirngespinst?

Mit ihrer Warnung vor einer „schleichenden Islamisierung“ treffen die Protestler in den immer stärker von Islamophobie infizierten westlichen Gesellschaften auf breite Zustimmung. Für der Türkei immer schon kritisch oder offen feindlich gegenüberstehende Politiker ist es sogar zu einem „Totschlagargument“ gegen einen türkischen EU-Beitritt geworden. Innenpolitisch gibt es wohl kaum ein Gesetzesvorhaben – selbst wenn es bloß um Jagd- oder Fischereirecht geht – im Zuge dessen der AKP nicht der Generalverdacht entgegengebracht würde, aus religiösen Motiven zu handeln.

Obwohl kein einziges im Parlament beschlossenes Gesetz auf  eine Islamisierung hindeutet, werden Maßnahmen, die in vielen Ländern der westlichen Welt alltäglich sind z.B. Verbot von Nachtverkäufen alkoholischer Getränke oder Verbot der Erregung öffentlichen Ärgernisses, schon als Indiz für eine Islamisierung der Türkei gedeutet.

Ein Teil des türkischen Volkes hat unbestritten das Gefühl der Islamisierung.
Das dass „Gefühlte“ jedoch nicht immer den Tatsachen entspricht, kann man in der Gesellschaft oft beobachten. Viele fühlen z.B. in Teilen Ostdeutschlands, wo der Migrantenanteil unter 1 % liegt, eine „Überfremdung“, während andere, etwa im Ruhrgebiet mit 20% Migrantenanteil, sich einer solchen nicht ausgesetzt fühlen. Nach mehreren sehr kalten Monaten steigt in Deutschland übrigens auch die Skepsis hinsichtlich der Theorie einer „menschengemachten Erderwärmung“. Und Sie dürften trotzdem davon ausgehen, dass es diese gibt. Eher ist es im politischen Handeln in jedem Fall ratsamer, sich auf Fakten zu stützen, anstatt aus emotionalen Gründen zu handeln.

Erdoğans Reformen

Aber gerade Sie, liebe Vorsitzende der Grünen, müssten doch ziemlich genau den wahren Zweck der Proteste kennen. Ihr Interesse am Kurdenkonflikt im Osten der Türkei hat Sie zur selbsternannten Türkei-Expertin gemacht. Sie waren öfter in der Türkei als viele Ihrer Parteigenossen und haben den von Erdoğan seit 2002 angestoßenen Demokratisierungsprozess vor Ort beobachten können.

Unter dem angeblich aus „islamistischen“ Motiven handelnden Erdoğan wurden:

- die Benachteiligung der Frauen im Erbrecht aufgehoben

- die Strafmilderung für „Ehrenmorde“ aufgehoben

- die Strafbarkeit unehelicher Beziehungen aufgehoben

- die Rechte der kurdischen Bevölkerung durch Aufhebung von Verboten der Verwendung der eigenen Sprache und durch aktive Maßnahmen zum Schutz der kurdischen Kultur gestärkt

- die Rechte der christlichen Minderheit verbessert

Die schon längst überfällige Reform der von einer Militärregierung diktierten Verfassung wird genau von der Klientel, die Sie mit ihren Auftritten direkt oder indirekt unterstützen, seit Jahren verhindert. Die Beilegung des PKK-Konflikts hat in diesem Lager die schärfsten Kritiker. Insofern ist Ihre Haltung und Positionierung in diesem Konflikt, zumindest für Ihre Partei, eine sehr unverständliche und widersprüchliche Haltung.

Erdogans selbstbewusstes, zum Teil provozierendes Auftreten kann man mögen oder kritisieren, es ist nun mal seine ganz eigene Art, Politik zu machen. Was man ihm aber – will man sich nicht auf die Ebene verwirrter Verschwörungstheoretiker – auf keinen Fall nach einem Jahrzehnt Regierungszeit vorwerfen kann, ist eine “schleichende Islamisierung”.

Sie werden mit Ihrer unbedachten Haltung auch zu einem Teil des Systems gegen den Demokratisierungsprozess der Türkei und sollten Ihre eindimensionale Sicht der Dinge überdenken. Nicht alles, was in der deutschen Sprache schön klingt, hat in der türkischen Sprache eine schöne Bedeutung.

Wir möchten Sie mit dem Gewissen wählen, dass Sie Ihren Prinzipien und Werten auch im Falle der Türkei treu bleiben. 

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