Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Die acht Fragezeichen

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Der entführte Dackel
Was ist meinem geliebten Hund zugestoßen?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Ich war das kleinste Kind der Schule, er war ein Zwergdackel. Wir beide schauten auf Unseresgleichen aus der Froschperspektive. Für jeden Schritt der Erwachsenen mussten wir vier machen. Zu zweit waren wir aber gleich schnell, wenn es darum ging, in Pfützen zu springen und Omas Buletten zu stibitzen.

Ich nannte ihn Axl Rose, nach dem Sänger von Guns N Roses. Es war der internationalste Name, der einer russischen Erstklässlerin wie mir in den 90ern einfiel. Ein Taschenhund für ein Taschenmädchen, sagte Oma. Wurst mit Beinchen, sagte der Nachbar. Er jagte Axl Rose mit dem Rechen aus seinen Beeten, die er vor unserem Mietshaus anbaute.

Sechs Jahre später sagte meine Mutter, dass wir nach Deutschland ziehen. Ich freute mich, dass Axl endlich ein Zuhause bekommen würde, das seinem exotischen Namen würdig wäre. Aber drei Tage vor Abreise war er verschwunden. Niemand hatte etwas gesehen. Die haben aus deiner Wurst Würstchen gemacht, sagte der Nachbar. War er schuld?

Eines war sicher: Weggerannt war Axl nicht. Rennen war nicht mehr sein Ding. Eher Straucheln. Gegen Ende unserer Zeit war Axl taub wie ein Türknauf und stolperte oft gegen Tischbeine. Unsere Wohnungstür war nach russischer Art immer mit drei Schlössern verriegelt. Außerdem traute sich Axl nicht mehr allein vor die Wohnungstür. War er versehentlich ausgesperrt worden, auf die Straße getaumelt, dort überfahren worden und heimlich begraben, um mir das Trauma zu ersparen?

Ich verdächtigte lange meine Oma, Axl gekidnapped und weggegeben zu haben. Vielleicht wollte sie meiner Mutter und mir einen altersschwachen Dackel in einem fremden Land ersparen. Drei Sommerferien in Folge fuhr ich in mein Heimatstädtchen, um Axl zu finden. Aber Oma gab nie etwas zu. Vielleicht, damit ich auch im folgenden Jahr wieder zum Suchen kommen würde. Und im vierten Sommer war Oma gestorben, und es gab niemanden mehr, den ich hätte fragen können.

wlada-kolosowa



Der geheime Fan
Wer hat bloß seine Hand für mich gehoben?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert




Für einen Jungen konnte ich in der sechsten Klasse sehr gut lesen. Auch unbekannte Texte flüssig und frei, so stand es in meinem Zeugnis. Als es darum ging, wer beim Vorlesewettbewerb für unsere Klasse antreten würde, war die engere Auswahl klar: Ich oder Dana.

Dana war mein Schwarm und gleichzeitig mein Vorbild: die Klassenbeste, aber gleichzeitig auch beliebt. Bei der Karnevalsfeier der Unterstufen war sie als eines der Spice Girls verkleidet. Ich hingegen war zwar gut in der Schule, aber hatte zu große Hasenzähne und war zu wunderlich, um mir nicht dauernd Gedanken um meinen Status machen zu müssen.

Unser Deutschlehrer ließ die Klasse darüber abstimmen, wer von uns beiden in die nächste Runde durfte. Beide, Dana und ich, sollten einen längeren Text vor der Klasse vorlesen. Den Text kannten wir nicht. Dana surrte durch ihren natürlich fehlerfrei, mit der eleganten Betonung einer Sechstklässlerin, deren Hochbegabung später auch offiziell attestiert werden würde.

Ich startete gut. Dann aber passierte etwas Schlimmes: In meinem Text kam ein Witz vor. Ich musste lachen. Und zwar heftig. Die Pointe habe ich längst vergessen, aber sie muss zumindest für die Sechstklässlerversion von mir so lustig gewesen sein, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu kichern. Keinen Satz konnte ich mehr vernünftig zu Ende lesen.

Anschließend kam die geheime Abstimmung: Alle Schüler legten sich mit ihrem Kopf auf ihr Pult, damit sie die anderen nicht sehen konnten, und hoben ihren Arm, wenn der Lehrer den Namen ihres Favoriten nannte. Das Ergebnis: Ich hatte eine Stimme. Eine einzige. Grausam wie Kinder sind, wurde ich von allen gefragt, ob ich da etwa für mich selbst gestimmt hatte dabei hatte ich selbstverständlich für Dana den Arm gehoben.

Ich habe nie herausgefunden, wer der- oder diejenige war, die so viel Verständnis dafür hatte, dass manche Witze einfach so lustig sind, dass man gar nicht mehr weiterreden kann. Gewünscht habe ich mir natürlich, dass es Dana war.

lars-weisbrod



Die geplünderte Truhe
Wer hat mein Tagebuch gestohlen?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Als Kind hatte ich ein Tagebuch mit einem kleinen Schloss, danach nur noch Notizbücher für wenig Geld. Ich habe immer darauf gebaut, dass das Tagebuch ganz unten in der Nachttischschublade gut aufgehoben ist und vor allem darauf, dass der Anstand meiner Mitmenschen so groß ist, dass sie es nicht lesen, sollte es ihnen doch mal in die Hände fallen.

  Als ich während des Studiums für ein halbes Jahr ins Ausland ging, leerte ich mein Zimmer für meine Zwischenmieterin. Ich lagerte alle meine Bücher in einer großen Holztruhe im Flur. Auch mein Tagebuch meine Erlebnisse in der Ferne wollte ich in einem separaten Heft notieren. Auf der Truhe stand eine Menge Kram, kaum jemand in unserer Dreier-WG öffnete sie je.

  Seitdem ist mein Tagebuch verschwunden. Es war nicht mehr in der Truhe, als ich nach Hause kam, und ich weiß bis heute nicht, wo es ist. Eine meiner Mitbewohnerinnen war zur gleichen Zeit selbst im Ausland. Und weder ihr noch der anderen traue ich zu, ein Tagebuch zu klauen. Was sollte das auch bringen? Selbst wenn sie es hätten lesen wollen (was ich nicht glaube), hätten sie es danach zurücklegen können. Meine Zwischenmieterin kannte ich kaum, aber sie war furchtbar niedergeschlagen, als ihr mein Fahrrad gestohlen wurde. So jemand liest doch keine fremden Tagebücher.

  Ich habe auch schon oft überlegt, ob ich mich vertan und das Buch von Anfang an woanders gelagert habe, aber komme zu keinem Ergebnis. Am Ende betrifft mein einziger logischer Verdacht die Party, die während meiner Abwesenheit in der WG stattfand. Erzählungen zufolge war sie sehr wild. Manchmal stelle ich mir vor, wie betrunkene Menschen alles von der Truhe gefegt, sie geöffnet und sich dann lallend und lachend eine halbe Stunde aus meinem Tagebuch vorgelesen haben. Dann tut mein Herz ein bisschen weh. Vielleicht wissen irgendwelche Fremden irgendwo da draußen jetzt mehr über mich als ich selbst. Ich habe nämlich längst vergessen, was alles in dem Buch stand. 

nadja-schlueter



Die Geister-SMS
Wer hat meine Freundinnen zu Tode erschreckt?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Im Herbst 2009 studierte ich in Frankreich. Eines Tages wollten drei Freundinnen mich im Auto besuchen kommen. Ich musste am selben Tag jemanden vom Flughafen abholen, deshalb hatten wir abgemacht, dass meine Mitbewohnerin die drei in die Wohnung lässt. Die Mädels sollten sich dann kurz melden, ob alles geklappt hat.

  Als ich am Abend vom Flughafen zurückfuhr, hatte ich allerdings immer noch nichts gehört. Ein wenig verwundert rief ich bei einer meiner Freundinnen an. Als sie meine Stimme hörte, begann sie mich hysterisch anzuschreien. Du hast uns eine SMS geschrieben! Du hast gesagt, wir sollen sofort umdrehen! Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Im Hintergrund hörte ich die anderen Mädchen wild durcheinanderreden. Ich hielt das Ganze zunächst für einen schlechten Scherz: Ihr habt schon ordentlich einen gebechert, nicht wahr?

  Hatten sie nicht. Stattdessen hatten sie tatsächlich von meiner Nummer eine SMS erhalten, in der sinngemäß stand: Dreht sofort um, es ist etwas Schreckliches passiert. Wir sitzen in Untersuchungshaft. Ruft uns nicht an und erzählt es keinem, das macht es nur noch schlimmer. Wir melden uns, wenn wir wissen wie es weitergeht.

  Die Mädels waren daraufhin auf die nächste Raststätte gefahren und hatten in Panik beratschlagt, was sie tun sollten. Da sie mir nicht zutrauten, einen derart makaberen Witz zu machen, drehten sie tatsächlich um. Zuhause riefen sie einen befreundeten Anwalt an. Der erzählte, dass man in Frankreich bei einem Autounfall mit tödlichen Folgen erstmal ins Untersuchungshaft kommen könnte.

  Meine Freundinnen saßen also völlig fertig bis abends vorm Telefon, mit dem Gedanken im Hinterkopf, wir hätten jemanden totgefahren. Als ich die Geschichte auflöste, waren sie so beschämt und traurig, dass sie nun auch nicht mehr kommen wollten.

  Ich habe meinen Handyanbieter später die SMS-Ausgänge prüfen lassen: Die Nachricht ging nicht von meinem Gerät ab, sondern kam aus dem Internet. Dort kann man recht simpel jede beliebige Absendernummer angeben, ohne dass die wahre Herkunft der Nachricht zu sehen ist. Die Polizei wollte uns nicht helfen. Sie könne doch nicht jeden makaberen Scherz verfolgen. Wir haben trotz zahlreicher Verdächtigungen und Vermutungen nie herausgefunden, wer uns dieses Wochenende versaut hat. Ich rufe jetzt immer vorher nochmal an, wenn ich Besuch erwarte.

charlotte-haunhorst



Die Café-Verschwörung
Wer hat mir einen Diebstahl angehängt?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Mit 17 kellnerte ich in einem Seniorencafé, das von einer Familie in meinem Heimatstädtchen betrieben wurde. Nach Feierabend tranken wir oft noch einen Prosecco zusammen, ich erzählte von der Schule, von meinem Freund, von den Partys am Wochenende. Zu Weihnachten aßen wir gemeinsam eine Gans. Die Vertrautheit währte so lange, bis mich an einem der ersten Frühlingstage eine SMS erreichte: Du brauchst heute nicht kommen. Nächste Woche auch nicht. Warte, bis wir wieder anrufen.

  Auf meine besorgte Frage, ob alles in Ordnung sei, kam keine Antwort. Drei Tage später fuhr ich schließlich hin. Die Mutter faltete Servietten, der Sohn kassierte. Aus der Küche lugte der Vater in weißer Schürze, doch statt mich anzuzwinkern, duckte er sich und verschwand hinter der Spülmaschine. An der Tortentheke stand die neue Freundin des Sohnes. Man führte mich ins Büro.

  In Mutters Portemonnaie und in der Kasse hat nach deiner letzten Schicht Geld gefehlt. Wir könne dir nicht mehr vertrauen, du bist sofort gekündigt. Ich fing an zu heulen und stammelte in meiner Rotze- und Tränenflut verzweifeltes Unverständnis. Mutter und Sohn hingegen schwiegen mich an. Keine Nachfragen, keine Bestürztheit, kein Bedauern.

  Ich begriff überhaupt nichts mehr und wankte aus der Tür. Zuhause rief mich meine beste Freundin an. Was denn bitteschön los sei, ihre Oma habe sie angerufen. Das Gerücht hatte unsere Kleinstadt unterwandert.

  Mein Vater drohte der Familie mit einer Verleumdungsklage, dann war offiziell Ruhe. Mich lässt das Geschehen bis heute nicht los. Dass ein Fremder das Geld genommen hat, scheint mir nach unzähligen Rekonstruktionsversuchen unmöglich.

  Ich glaube mittlerweile, dass nie irgendwelches Geld verschwunden ist, sondern dass man mich loswerden wollte. Hatte die Sache womöglich irgendwas mit der neuen Freundin des Sohnes zu tun, die kurz vor dem Vorfall aufgetaucht war?

  Wenn ich heute alle paar Monate mal zuhause bin, laufe ich an dem Café vorbei. Jedes Mal packt mich der dringende Wunsch, die Tür aufzustoßen wie im Western und die gesamte Besatzung zur Rede zu stellen. Doch immer gehe ich weiter. Manchmal erkenne ich durchs Fenster die Silhouette der dicken Mutter, manchmal sehe ich den Haarschopf des Sohnes und im Supermarkt habe ich einmal seine Freundin an der Tiefkühltheke gesehen. Ich fokussiere dann ihre Köpfe und denke: Da drinnen sitzt das dunkle Geheimnis.  

mercedes-lauenstein



Das brennende Licht
Hat der Nachbar in meiner Wohnung gestöbert?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Hast du eine Apple-Start-CD? Kein Hallo, kein Entschuldigung, wie immer gleich zur Sache: Vor meiner Haustür steht nach ausgiebigem Sturmklingeln unser selbsternannter Hausmeister, den meine Mitbewohnerin und ich Mr. Filch nennen, nach dem Blockwart aus Harry Potter. Er ist ungepflegt, hört und sieht schlecht. Deshalb kommt er immer besonders nahe mit seinen rotgeränderten Glubschaugen. Fettige Strähnen hängen ihm ins Gesicht, seine Haut ist grau mit einem Stich ins Grüne. Jetzt will er also diese CD, von der ich keine Ahnung habe, was sie sein soll. Sorry, sowas habe ich nicht. Aber schau doch mal, du hast doch ein MacBook.

  Zack, steht er mit einem Fuß halb im Flur. Ich bugsiere ihn wieder raus, sage, wenn ich etwas in der Art finde, melde ich mich. Als ich die Tür schließe, geht das Kopfkino los. Und dauert bis heute, sechs Jahre später.

  Woher wusste Mr. Filch, dass ich ein MacBook besaß? Wenn man in unserer Wohnungstür steht, kann man nicht in mein Zimmer sehen, der Laptop stand immer auf meinem Schreibtisch, wir haben keinen Balkon, das Ding verließ nie das Haus. Er konnte mich also nirgends damit gesehen haben. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr komische Ereignisse fielen mir ein. Manchmal brannte Licht, wenn ich heimkam, obwohl meine Mitbewohnerin vor mir die Wohnung verlassen hatte. Die Schuhe standen anders, Türen waren geschlossen, die wir immer offen ließen. Er musste in unserer Wohnung gewesen sein. Aber woher hatte er einen Schlüssel? Noch von den Vormietern? Was hatte er angefasst, lag er in meinem Bett, war er an meiner Unterwäsche? Oder bildete ich mir das alles nur ein?

  Ich versuchte mich zu beruhigen, suchte nach fadenscheinigen Erklärungen. Die blödeste: Vielleicht sieht man anhand des W-Lans, dass ich ein Apple-Gerät besitze. Natürlich Quatsch. Ich saß in der Klemme, fragen konnte ich ihn ja schlecht. Das mulmige Gefühl blieb. Irgendwann wurde meiner Mitbewohnerin der Schlüsselbund geklaut, wir ließen ein neues Schloss einbauen. Danach war nie mehr das Licht an, Türen offen oder zu, die es nicht hätten sein sollen, oder irgendwas anders. Aber ich weiß bis heute nicht, ob ich mich da in etwas reingesteigert habe oder Mr. Filch tatsächlich in unserer Wohnung war. Bei dem Gedanken bekomme ich immer noch Gänsehaut.  

michèle-loetzner


   
Der verschollene Rucksack
Wer hört heute meine CDs?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Zu einer Zeit, in der StudiVZ eines der größten sozialen Netzwerke in Deutschland war und ich mir noch ausschließlich Original-CDs kaufte, begann ich damit, in ganz Deutschland auf Poetry Slams aufzutreten. Eine meiner ersten Touren führte mich nach Moers. Ich war mit D. unterwegs. Der Abend verlief zunächst, wie jeder Poetry Slam verläuft. Unüblich wurde es, als uns der Veranstalter mitteilte, er habe leider keinen Schlafplatz für D. und mich organisiert. Wir standen nach der Veranstaltung also auf der Straße.

Wir ließen das Auto stehen, fuhren mit dem Zug nach Duisburg und fragten uns in eine Bar durch, die lange geöffnet hatte. Bei einem fremden Mädchen übernachten, das war unser Plan. Wir tranken Long Island Icetea und flirteten. Meine hatte große Schneidezähne und einen ziemlich guten Po. Später, ich trug bereits keine Socken mehr, rief D. mich an. Das hat nicht hingehauen bei ihm, sagte er, er stehe vor der Tür. Ich zog mir meine Socken also wieder an.

Im Morgengrauen und fürchterlich betrunken stiegen wir wieder in einen Zug, zurück nach Moers, zurück zum Auto, dachten wir. Es begann eine ziemliche Irrfahrt durch das Ruhrgebiet. Als ich morgens in Krefeld auf einer Bank am Bahnsteig aufwachte, war mein Rucksack verschwunden. Portemonnaie, Handy, mein erstes Notizbuch, meine geliebten CDs, die ich hüllenlos in einem extra CD-Fach transportierte: Alles weg. Unwiederbringliches zum Teil. Ich war tottraurig und unendlich erschöpft, als ich irgendwann wieder zu Hause war.

Ein paar Tage später rief ein Typ meine Freundin L. an. Er hatte meinen Rucksack gefunden. In einem Gebüsch in Uerdingen, es war noch alles drin. Der Typ wollte den Rucksack gleich losschicken. Er kam nie an. Der Typ ging auch nicht mehr ans Telefon, reagierte auf keine StudiVZ Nachricht. Ich weiß bis heute nicht, wer im Besitz meines ersten Notizbuches ist und wer meine CDs hört. Manchmal stehe ich vor dem CD-Regal und sehe die leere Hülle des Strokes-Albums This is it. Dann denke ich an große Schneidezähne und einen ziemlich guten Po und eine wunderbare Zeit.

dorian-steinhoff 




Der Apfeltyp
Was will der Typ vor meinem Fenster?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Im Garten vor unserer Souterrain-Wohnung lebt ein Hase. Er wohnt im Gebüsch und mümmelt dort meistens so vor sich hin. Ich liebe es, wenn er an das Fenster hoppelt, vor dem ich an meinem Schreibtisch sitze. Ganz anders geht es mir mit einem anderen regelmäßigen Besuch im Garten: Seit drei Jahren kommt, immer so im Juli, ein Typ vorbei.

Er ist um die 40, hat wenig Haare und einen Bierbauch. Das wäre ja egal, zumindest mir. Aber dieser Typ steht dann drei bis fünf Tage am Stück, immer für ein paar Stunden, im Garten und sieht zu mir in die Wohnung. Er steht da, starrt und reißt immer wieder einen Apfel vom Baum und schmeißt ihn in das Gebüsch, in dem unser temporäres Haustier wohnt.

Keiner der anderen Mieter im Haus kennt ihn, auch die Hausmeisterin nicht, die eigentlich immer jeden kennt. Es scheint auch immer nur mir aufzufallen, dass er da ist. In den Stunden, in denen er in unserem Garten steht, drehe ich fast durch. Ich frage mich: Wer ist dieser Typ? Wo kommt er her? Und vor allem: Was will der hier? Ist er ein Tier-, ein Hasen-Hasser? Ist er aus einer Psychiatrie ausgebrochen? Dann würde er nicht jedes Jahr wieder kommen. Will er uns mit seinen unheimlichen Auftritten vertreiben, weil er gern in die Wohnung ziehen will? Man liest ja, dass die Leute allerhand machen, um an eine Wohnung in München zu kommen.

Das geht so weit, dass ich überlege, ob ich die Hausmeisterin fragen soll, was mit den Mietern vor uns passiert ist. Ich weiß natürlich, dass das alles Quatsch und der Typ bestimmt nur ein einsamer Spinner ist. Aber es macht mich wahnsinnig, dass ich nicht weiß, was das alles soll. Rausgehen und fragen traue ich mich nicht, ich habe die einschlägigen Horrorfilme gesehen. Die Polizei rufen wäre übertrieben, schließlich darf auf der Fläche zwischen zwei Wohnhäusern doch jeder gehen und stehen, wenn er will. Es könnte vielleicht als Tierquälerei durchgehen, wenn er den Hasen mit einem Apfel trifft.

Ich habe beschlossen, dass ich mich ruhig verhalte. Ich ziehe, und wenn die Sonne noch so schön scheint, mein Rollo auf Halbmast. So sieht er mich nicht, aber ich habe seinen Unterkörper im Blick falls er auf die Idee kommt, mein Fenster einzuschmeißen und reinzukommen. Für alle Fälle steht ein Mini-Haarspray, mein Pfefferspray-Ersatz, einsatzbereit neben meinem Computer. Wenn der Apfelschmeißer wieder weg ist, habe ich ihn schnell wieder vergessen.

Bis wieder etwas passiert, das ich mir nicht erklären kann. Zum Beispiel, als mein Fahrrad vor ein paar Wochen geklaut worden ist und zwei Tage später mein Schloss an derselben Stelle wieder aufgetaucht ist. Unversehrt. Psychospielchen, denke ich dann. Und träume in der Nacht garantiert von seinen unheimlichen Augen.  

kathrin-hollmer





Text: jetzt-redaktion - Illustration: katharina-bitzl

  • teilen
  • schließen