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Ohne Papas helfende Hand

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So jemand wie das Mädchen mit der Brille und den braunen, zu einem Dutt geknoteten Haaren war dem Sachbearbeiter im BAföG-Amt der Uni Dortmund noch nie begegnet. Jeden Tag kommen Studenten hierher, um sich über die Finanzierung ihres Studiums zu informieren, Formulare abzugeben oder sich beim Ausfüllen helfen zu lassen. Sie rollen zwar oft mit den Augen, doch bei den meisten geht der Antrag durch. Aber dieses Mädchen saß da und verlangte das Formular 8, den „Antrag auf Vorausleistungen“. Der Sachbearbeiter hatte von diesem Formular noch nie gehört. Roxan – so heißt das Mädchen – brauchte es aber, um den Antrag ohne Kontakt zu ihren Eltern stellen zu können. Roxan ist ein Pflegekind.  

Sie studiert Sonderpädagogik in Dortmund. Sie ist eine der wenigen Studierenden, die nicht bei ihren leiblichen Eltern, sondern in Pflegefamilien oder im Heim aufgewachsen sind. Über 100 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland leben derzeit bei Pflegeeltern, in Wohngruppen oder anderen Erziehungseinrichtungen, mindestens bis zur Volljährigkeit. Das Gesetz erlaubt auch eine Betreuung bis 21 oder sogar 27, aber oft drängen die Jugendämter auf schnellere Selbstständigkeit: Sobald ein Ausbildungsplatz, ein Job, eine eigene Wohnung gefunden ist, sind die Jugendlichen auf sich gestellt. Auf ihnen lastet ein hoher Erfolgsdruck. Für die meisten jungen Menschen ist es selbstverständlich, erst einmal etwas auszuprobieren. Wenn einem das Studium und die neue Stadt doch nicht gefallen, wechselt man eben oder geht doch noch mal ein Semester zurück nach Hause. Doch für jemanden ohne Familie gibt es kein Zuhause - und damit auch kein Zurück.
 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



2012 startete die Universität Hildesheim das Forschungsprojekt „Higher Education Without Family Support“. Es soll diesen Übergang erleichtern und mögliche Krisen mildern, damit mehr ehemalige Pflege- und Heimkinder studieren können. Dazu brauchen die Forscher zuerst Informationen. Bislang hat sich kaum jemand für ehemalige Pflegekinder an Universitäten interessiert, es gibt keine verlässlichen Daten darüber, wie viele von ihnen gerade an deutschen Hochschulen studieren. Noch weniger weiß man über die Bedürfnisse dieser sogenannten „Careleaver“. „Wie sind sie auf die Idee gekommen, zu studieren? Was sind dabei die besonderen Herausforderungen? Wer und was hat sie unterstützt?“, fasst Katharina Mangold, Mitarbeiterin des Projekts, die Fragen zusammen, um die es ihr geht. Außerdem soll ein Netzwerk entstehen, in dem Careleaver, die studieren oder studieren wollen, Erfahrungen austauschen und an andere weitergeben können.
 
Um dieses Netzwerk auf die Beine zu stellen, treffen sich Roxan, 20, Christina, 25, Christian, 26, und Jens, 27, mit Katharina Mangold an der Uni Hildesheim. Heute besprechen sie ihren ersten Flyer, der an Jugendhilfeeinrichtungen verschickt werden soll. Während es draußen schneit, geht es drinnen im Konferenzraum bei Kaffee und Kuchen um Text- und Farbauswahl. Roxan macht das Layout, Christina erklärt sich bereit, ein Logo zu zeichnen, Christian kümmert sich um die Homepage. Über Plakate, Webseiten oder Bekannte haben sie von der Netzwerkgründung erfahren. Bis dahin kannte keiner von ihnen den Begriff „Careleaver“, der zum Beispiel in England oder Kanada, wo viel offener über die Probleme ehemaliger Heim- und Pflegekinder gesprochen wird, sehr präsent ist. Im Deutschen fehlt so ein Wort, das die völlig unterschiedlichen Biografien der vier Netzwerker zusammenfasst.
 
Roxan wurde vom Jugendamt aus der Familie genommen. Sie hatte als Kleinkind mehrere Knochenbrüche erlitten, wahrscheinlich war sie gegen die Wand geworfen worden, genau weiß sie das nicht, sie war damals noch zu klein, um sich erinnern zu können. Sie kam in eine Pflegefamilie. Ebenso Christina, mit 12, weil ihre Mutter psychisch krank ist; mit 14 wechselte sie in eine Wohngruppe, mit 19 zog sie aus und studierte soziale Arbeit. Jens, Pädagogikstudent, ist Vollwaise. Auch er lebte erst bei Pflegeeltern, dann im Internat und anschließend allein in seinem Elternhaus. Christian hatte nach der Scheidung seiner Eltern keinen Platz mehr in ihrem Leben und kam mit 13 in ein Heim, das er schon mit 17 verließ. Seit dem Abschluss seiner Ausbildung als Rettungssanitäter wartet er auf einen Studienplatz in Medizin. Sie alle haben, teils auf Umwegen, ihr Abitur gemacht, obwohl das den meisten Pflege- und Heimkindern nicht zugetraut wird. „In den Einrichtungen, die ich kennengelernt habe, hatte ich das Gefühl, dass es denen zu aufwendig war, begabte Jugendliche zu fördern“, erinnert sich Christian. „Man hat sie lieber in ihrem Trott gelassen und ihnen etwas eingeredet, das typisch für Heimkinder war: Mach deinen Realschulabschluss, dann wirst du mal Koch.“
 
Für viele Careleaver ist der Weg in eine Ausbildung leichter als der an die Uni. Denn ein Studium wird meist stark von der Familie mitgetragen, sowohl finanziell als auch ideell. „Die Worte ‚meine Eltern’ fallen sehr oft, obwohl die Leute eigentlich schon erwachsen sind“, sagt Jens über seine Kommilitonen, „vor allem, wenn es um Studiengebühren oder Geld für den Urlaub geht. Wenn ich Geld brauche, kann ich nicht auf meine Eltern zurückgreifen.“ Die Finanzen sind für alle ein großes Thema. Während andere Ferien machen, müssen ehemalige Pflege- und Heimkinder oft arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber auch die emotionale Stütze und das Elternhaus als Rückzugsort fehlen vielen Careleavern. Sie können nicht auf Mamas Sofa ausspannen, wenn sie Stress haben, oder Papas Rat und Trost einholen, wenn sie in einer Krise stecken. „Sollte das mit dem Studium daneben gehen, habe ich kein Fangnetz unter mir“, sagt Christian, „ich habe kein Zuhause, sondern nur einen Wohnort.“ Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, an denen die Careleaver den Unterschied zu ihren Kommilitonen bemerken. „Das kann ein Umzug sein“, sagt Jens, „dass Papa Bett und Schrank in die neue Wohnung verschifft. Wir müssen uns da Alternativen überlegen.“ Manchmal können solche kleinen Momente, die einem die eigene Situation vor Augen führen, frustrieren. Er versuche dann, möglichst gelassen damit umzugehen, erzählt Christian: „Warum soll ich anderen Vorwürfe machen, dass es ihnen vermeintlich besser geht? Es muss sich doch niemand dafür rechtfertigen, dass er in seiner Familie aufwächst.“
 
Dr. Severine Thomas betreut in Hildesheim ein zweites Projekt: Unter der Fragestellung „Was kommt nach der stationären Erziehungshilfe?“ werden auch hier Ideen gesammelt, wie den Careleavern der Weg in die Selbständigkeit erleichtert werden und ihr Nachteil gegenüber Jugendlichen mit Familie ausgeglichen werden kann. Ein gutes Vorbild in Sachen Studium ist Großbritannien. „Dort gibt es spezielle Stipendien und Mentorenprogramme für Careleaver“, sagt Thomas, „bei der Einschreibung kann man ankreuzen, wenn man zu dieser Gruppe gehört.“ Das Modell hat Erfolg: Seit der Einführung vor zehn Jahren ist die Zahl der Studierenden, die „in Care“ gelebt haben, von einem auf zehn Prozent gestiegen. Denn Stipendien und Mentoren können helfen, zwei der größten Hürden zu überwinden: die finanziellen Engpässe und die fehlenden Bezugspersonen. Solche Modelle wären auch für Deutschland denkbar. Außerdem müssten die Hochschulen besser informiert und die Kommunikation zwischen ihnen und den Careleavern gestärkt werden.
 
Dabei kann auch das Netzwerk helfen. Noch steht es ganz am Anfang, das Treffen in Hildesheim ist erst das dritte. „Die Idealvorstellung wäre, dass jeder Careleaver in Deutschland irgendwann davon erfährt und es eine Eigendynamik gewinnt“, sagt Jens. Ihnen allen hat es zumindest schon mal ein wichtiges Gefühl gegeben: nicht alleine zu sein mit der eigenen Situation.
 
Das Logo-Brainstorming für den Flyer hat zu keinem abschließenden Ergebnis geführt. Vielleicht etwas mit Händen, die ineinandergreifen. Die Entscheidung wird vertagt. Im Mai steht das nächste Treffen in Bielefeld an, es wird größer sein und über ein Wochenende gehen, da bleibt mehr Zeit. Auch ein kleiner Dokumentarfilm soll dann gedreht werden, der die Careleaver vorstellt und zeigt, dass man auch ohne Familie ein Studium schaffen kann. So wie Roxan. „Die, von denen ich abstamme, waren nicht ganz so helle“, sagt sie und schmunzelt dabei. „Das zeigt ja, dass man Intelligenz nicht nur vererbt bekommt.“

Text: nadja-schlueter - Illustration: Tuong Vi Pham

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