Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

12.11.2012 Sternschnuppen

Text: LaLinda

Zweihundert Sternschnuppen die Stunde, hast du gesagt. Ich hab in meinem Leben noch nie eine Sternschnuppe gesehen. Also hab ich meine Schuhe und meine dicke Jacke angezogen und bin fünf Stockwerke hinunter vor die Tür gegangen. Ich hab das w gesucht, das „Cassiopaia“ heißt, und den großen Wagen, wie du es mir gesagt hast. Dann hab ich mich auf die kleine Schaukel vor der Haustür gesetzt, mit meinem Bier, mir eine Zigarette angezündet und gewartet. Mit dem Kopf im Nacken. Ich konnte die Sterne kaum erkennen. Ich hab die Augen zusammen gekniffen und war überzeugt, gleich meine erste Sternschnuppe zu sehen.
Auf einmal hab ich mich gefragt, ob ich eine Sternschnuppe überhaupt erkennen würde, wenn ich sie sehe. Und was ich mir dann wünschen soll.



Ich bin gerade vor einer Woche weggegangen. Weg aus meiner Heimatstadt, weg von meinen Freunden, meinem Job, meinem Leben. Und von dir. Ich studiere jetzt. Ich hab eine WG gefunden, in der ich mich wohlfühle. Ich hab sogar schon ein oder zwei potentielle Freunde unter meinen Kommilitonen gefunden. Sehr langsam fange ich an, mich in den fremden Straßen und Gassen dieser neuen Stadt zurecht zu finden.
Aber ich hab immernoch zu viel Zeit. Wenn ich nach der Uni nach Hause komme, weiß ich nie so recht, was ich mit mir anfangen soll. Es ist ja nicht so, als wären hier keine Menschen, mit denen ich mich unterhalten oder etwas unternehmen könnte. Aber das will ich gar nicht, nicht rund um die Uhr. Wenn ich dann alleine bin in meinem kleinen, aber inzwischen doch ziemlich gemütlichen Zimmer, weiß ich meistens nicht mehr, was ich hier überhaupt mache. Warum ich von dir weggegangen bin. Und warum ich mich jetzt verdammt nochmal so sehr nach dir sehne, obwohl ich mich zuvor, als ich noch bei dir war, immer so sehr danach gesehnt habe, endlich weg zu gehen.



Ich kenn dich noch gar nicht so lange. Jedenfalls nicht lange genug, um sagen zu können, dass wir schon lange beieinander sind. Darum ist das alles so seltsam. Ich war immer sicher, mein Glück alleine zu finden. Manchmal fand ich sogar, dass ich es schon gefunden hatte. Und das hat mir gereicht. Ich wollte weggehen und studieren, ein neues Leben anfangen und am liebsten so viele Verbindungen zum alten kappen, wie es mir nur möglich ist. Einfach, weil mich in meinem alten nicht so viel gehalten hat. Mein Glück war davon nicht abhängig. Ich hab nicht gedacht, dass ich alleine alt werde. Ich hab nur gedacht, es wär nicht schlimm, wenn es so wär. Ich wollte selbstständig sein. Und es schaffen. Das Weggehen. Das Neuanfangen.
Das war auch das erste, woran ich gedacht habe. Das würde ich mir wünschen, wenn ich meine erste Sternschnuppe sehe. Nämlich, dass ich es hier schaffe. Das ich hier glücklich werde. Oder mich zumindest mal hier Zuhause fühlen werde. Und wenn ich meine zweite Sternschnuppe sehen würde, würde ich mir das Glück mit dir wünschen. Einfach, weil man sich das dann doch so wünscht, wenn man jemanden hat, den man liebt. Irgendwie.



Dann hab ich gelacht. Ich bin nicht jemand, der etwas tut, was man halt irgendwie so tut. Ganz und gar nicht. Das denke ich jedenfalls von mir. Meine Prioritäten liegen auch anders als die der meisten Menschen, glaube ich. Ich lebe für mich.



Und trotzdem habe ich entschieden, auf dieser Schaukel, dass mein Wunsch bei meiner ersten Sternschnuppe ein anderer wäre, als ich von mir erwartet hätte. Mein erster Wunsch wärst du.



Eine halbe Stunde, vier Flugzeuge, zwei Vögel und ein paar mich argwöhnisch beäugende Mitmenschen später, habe ich entschieden, dass das reicht. Mir war kalt und mein Nacken tat weh. Ich bin aufgestanden, die fünf Stockwerke hinaufgestiegen, habe meinen Schlüssel herausgekramt und aufgeschlossen. Bin in mein kleines, aber gemütliches Zimmer gegangen und habe mich aufs Bett gesetzt. Aufs Bett, weil es hier drin nichts anderes zum sitzen gibt. Kein Platz dafür.



Es macht nichts, dass ich noch immer keine Sternschnuppe gesehen habe. Die Sternschnuppen, die ich nicht gesehen habe, haben mir etwas beigebracht. Dass du mich verändert hast, nämlich. Und im Gegensatz zu sonst ist diese Veränderung nicht scheiße. Die ist gut. Um das zu sehen, brauch ich keine Sternschnuppe.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: