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Verwachsen

Text: sokratine
Aus: "Wachsen" - ein ernstzunehmendes Wortspiel

Lieber Wassja, mein lieber Wassja!

Wie schön ist es, dir heute zu schreiben, nach all den Jahren der Stille zwischen uns. Mir tut es bis jetzt ein bisschen weh, dir nicht früher geschrieben zu haben, aber du weißt, wie das Leben es so treibt: alle schwimmen wir auf unseren eigenen Flüssen, ohne auf die Ufer zu schauen.

Und jahrelang habe ich nicht auf das Ufer geschaut, ich habe mir die Auslagen der blinkenden Fenster lieber angeschaut als dein Haar, deine freundlichen Augenwinkel, deine gefalteten Handflächen, wenn du um Vergebung gebeten hast. Weißt du, dass ich eigentlich in deinen Augenwinkeln wohnen wollte? Für mich gab es nie einen wärmeren Platz, als wenn du darin gelacht hättest. Mit der Zeit hätten deine Falten einen guten Unterschlupf geboten. Ich hätte mich wohnlich darin einrichten können. 
Aber stattdessen sind wir zu IKEA gefahren. Wie alle anderen. Du weißt, das war so furchtbar schick.

Mein lieber Wassja! Bestimmt musst du meine Einleitungen hassen. Du weißt schon im Vorraus, dass sich dahinter etwas anderes verbirgt. Du weißt auch, dass die Menschen, die ein Vorwort schreiben, auch ein Nachwort brauchen. Sie packen den Hauptteil in schönes Geschenkpapier, bis er unscheinbar verdeckt ist, und vielleicht minder schmerzhaft, und vielleicht minder schön.

Nun, so hast du mich wieder entlarvt. Ich bin dir nicht böse. Ich bin eine schlechte Lügnerin. Deswegen gibt es heute nur Wahrheit, Wassja, Wahrheit!

Ich weiß, dass die alte Schurin immer sagte: "Die Wahrheit wohnt in den Zungen der Kinder und Betrunkenen." Artjom hat heute nichts gebracht. Deswegen werde ich Kind sein müssen.

Artjom ist ein guter Mann. Bitte mach dir keine Sorgen. Er kümmert sich gut um mich. Wir haben beide Arbeit, das sollte gut sein. Wenn uns jemand anschaut, wenn uns jemand besucht, dann können wir aufrecht gehen. Wir halten unsere Hände auf die Wunden, bis es besser geht. Darüber hinaus sagen wir nicht zuviel. Wie sollen wir auch? Wir sind beide nackt voreinander. Haben all unser Herz ausgegeben. Womit soll man sonst handeln, im Tausch, in so etwas wie Liebe?

Wassja, da ist nur etwas. Etwas Kleines, das mich davon abhält, glücklich zu sein. Als du gegangen bist, da hast du gesagt, ich müsste so glücklich sein, dass ich es überall fühlen muss. In den Knien, weil ich soviel tanze. In den Grübchen, weil ich soviel lache. Im Kopf, weil mir vom Glück die Welt vergeht. 
Wie sehr hast du es dir gewünscht, Wassja. Zu spät habe ich verstanden, wie wenig du es dir wünschen kannst. Du hast mit deinen Augen gesehen. Ich sehe mit dem Herzen, das bei dir liegt.

Und ich sage dir, Wassja, dieses eine sage ich: die Menschen tanzen nicht aus Glück, sie lachen nicht aus Glück, sie wandern nicht aus Glück. Sie tanzen, sie lachen, sie wandern ihrem Glück hinterher. Ihre Augen verfolgen ein Ziel, an einem immer gleichen Horizont - hörst du sie nicht trampeln? Jeden Tag trampeln sie, zur Metro hinab, zu den Sternen hinauf, auf den kleinen Köpfen herum. In die Ferne von sich selbst hinein.

Als du mir also gesagt hast, Wassja, da habe ich versucht, zu gehen. Dann habe ich versucht, zu laufen. Ich habe versucht, den Morgentau nicht mehr als die Tränen der Erde zu sehen, wie früher, in Irkutsk. Ich habe versucht, mich nicht an die Abende am Baikal zu erinnern, als ich in deinen Haaren ruhte, als wäre ich auf ewig darin verfangen. Ich habe versucht, mir eine neue Natur zu leihen. Ich habe versucht, Artjom zu lieben. Er hat mir ein Kind gemacht. Das haben wir nie versucht. Da musste ich stehen bleiben.

Wassja, wenn du wissen willst, was ich tue, das tue ich. Ich verwachse. Ich verwachse mit dem kleinen Wir, Du, Ich, Ihm, irgendwie. Es fühlt sich seltsam an, nach all der Zeit, da alle Lebensenden nur dazu da waren, sich abzustoßen, wie an einem alten Schwimmbecken ohne Ausgang. Ich weiß nicht, wie ich's machen soll, Wassja. Ich weiß es einfach nicht.

Ich bin wütend auf dich, Wassja. Du müsstest viel schlauer gewesen sein. Weil: glücklich wird man nicht mit den Augen. Glücklich wird man mit dem Herzen. 

Und das Herz heilt nie ganz, es wächst nie aus, es verwächst nur. Mit dem Haus der Schurin, in dem wir Schi gegessen haben; mit den Nussbäumen von Onkel Wanja; mit den Erinnerungen an alles, das uns auf der Erde hält. Mit der Zukunft und den wirklichen Luftblasen, die darin schweben, in Irkutsk, in Moskau, und überall dort, wohin ich mich nicht denken kann. Wir sind verwachsen mit den Menschen, mit denen wir verbunden sind, ob wir es wollen oder hassen. Es ist eine unverrückbare Wahrheit, Wassja. Ich kann es wissen, vielleicht bin ich die einzige, die es weiß. Ich weiß es in jedem Moment, da ich auf der Erde stehe, unter der du liegst.

Wassja, vielleicht hast du es dein Leben lang nicht begreifen können, wir beide nicht.  
Das meiste in der Welt tut nicht einzeln gut und weh. Meistens tut es beides zusammen. Wir haben nur das Glück, atemfrei laufen zu können, wenn wir wissen, dass wir verwachsen sind.

Mein lieber Wassja, bitte mach dir keine Sorgen wegen dem, was ich sage. Trage es bei dir. Dort, wo du es tragen kannst, da ist alles vergeben.

(...)

Eins noch:

Heute ist ein glücklicher Tag. Heute habe ich mein Herz ausgegraben. Es hat nicht lang gedauert, es lag Morgentau dabei. Die Schurin sah ruhig dabei zu. Danach sind wir in den eiskalten Baikal gestiegen. Die Kälte stach so scharf, dass es in alle Knochen schoss. Doch ich war endlich wieder warm darin. Und dann bin ich zu deinen Ufern geschwommen und habe sie mit dem Herzen gesehen.

Heute ist ein glücklicher Tag, Wassja. Trotz und weil er weh tut. Für nichts könnte ich dir mehr danken.

 

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