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Er spießt, er spießt nicht. Er spießt, er…

Text: VinzenzFedor
„Ich und meine Freundin überlegen, ob wir zusammenziehen“ erklärte ich vor Kurzem einer Bekannten. „Ich würde echt nicht mit meinem Freund zusammenleben wollen!“, erwiderte sie. „Das ist doch total spießig!“ Und dann entbrannte auch schon die Diskussion, was uns nun zu Spießern machen oder uns von ihnen unterscheiden könnte. Aber was genau heißt „spießig“?




Eine lautmalerische Offenbarung



Das Wort „spießig“ deutet bereits durch den Klang auf seinen Inhalt. Das scharfe S drückt Kühle aus und ist damit onomatopoetische Offenbarung. Auch die Bedeutungswurzel ist nicht sonderlich angenehm: Graf Dracula ließ in Transsylvanien die Köpfe seiner getöteten Gegner aufSPIESSEN. Wenn man den SPIESS umdreht, dann hat der andere nichts mehr zu lachen. Wer Stachelschweinen und Igeln zu Leibe rückt, den piksen deren Stacheln – die SPIESSE der Natur.



Überträgt man dies alles auf die soziale Welt, so könnte man einen Spießer als jemanden beschreiben, der seine Mitmenschen gewissermaßen durch seine Stacheln abstößt. Aber wodurch? Wie sehen die Stacheln eines Menschen aus?



 Spießig ist bürgerlich! Oder?



Dazu muss man nur den Blick auf die Menschen richten, denen das Wort Spießer als Fremdbeschreibung anhaftet: Die Spieß-Bürger. Wenn aber alles, was bürgerlich ist auch spießig ist, dann müssten die Grünen jetzt den CDUlern in dieser Sache das Wasser durchaus reichen können – denn sie werden ja nicht müde zu betonen, dass die bürgerliche Mitte durchaus bei ihnen ihr Kreuzchen setzen könne.



Bürgerlichkeit oder Bürgertum hat etwas mit Konservativismus zu tun und so auch ein wenig mit Stillstand. Im Subtext schwingen Routine, gebügeltes Hemd, Verregelung und Seitenscheitel mit. Und vielleicht ist es genau das, wovor sich meine Bekannte fürchtet: Ihre Beziehung könnte sich in der gemeinsamen Wohnung veralltagen, langweilig werden und schließlich-spießlich zum Stillstand kommen.



„Gemeinsam als Pärchen kochen und dann Freunde zum Essen einladen – das geht zum Beispiel gar nicht“, erklärt sie mir ihre Vorstellung vom Spießertum. Aber wenn man als WG aufkocht und ein paar Leute vorbeikommen, ist der Spießer-Alarm nur ein falscher. Wenn ein Freund, der mit ihr zusammen an einer Kunsthochschule studiert in einem grünen Wollpollunder mit gelbem Segelschiff auf dem Campus abhängen würde, dann wäre das stilvoll. Würde er noch bei seiner Mama wohnen und in einer Bank arbeiten würde wohl jeder den Spießer-Stempel ohne zu zögern ins Stempelkissen und dann auf des Muttersöhnchens Stirn drücken.



Zum Spießer wird man durch den Kontext



„Spießig“ ist also kontextuell, eine bestimmte Eigenschaft oder visuelles Phänomen nur in der Zusammenschau mit anderem das, wie wir nicht genannt werden möchten. Beispiel Schnauzbart. Bin ich Erdkundelehrer oder Arbeitnehmer-Vertreter, FDP-Vorstandsmitglied oder Dirigent – dann attestiert mir der Balken unter der Nase Spießertum. Arbeite ich dagegen beim Rolling Stone, heiße Klaas oder habe ein MacBook vor mir stehen – dann habe ich Stil.



Es kommt also auch darauf an, mit welcher Attitüde  ich etwas tue. Steckt hinter einem Schnurbart ein Hauch Ironie, so ist er lässig. Trage ich mein Haar wie ein Pomadenhengst nach hinten gekämmt, stehe aber auch als Sänger einer Hardcore-Band auf der Bühne, heißt es herrschen statt spießen. Wenn ich allerdings 20 Minuten im Backstagebereich an der Frise herumtüftle, damit sie fürs Konzert sitzt, bin ich nicht weniger spießig als ein Beamter, der am selben Abend in Anzug zu einer Vorstellung von Mario Barth geht.



Nimmt man sich selbst nicht zu ernst, spießt man nicht



 „Attitüde“ lautet das Stichwort – nehme ich mich selbst nicht zu ernst, wahre ich eine ironische Distanz zu meinem öffentlichen Auftreten, bin ich nicht spießig. Ein Hipster, der sich möglichst spießig anzieht, ist genau so ein Spießer wie ein Mitglied in der Jungen Union mit Bausparvertrag, wenn er den Anti-Dresscode zu seinem Lebensinhalt macht (und das tun ja leider sehr viele).



Aber letztlich bleibt die Einschätzung, was spießig ist und was nicht, ein Ding der Subjektivität – denn jeder sieht den Kontext, der ein Ding „verspießt“ anders. Erinnert man sich an den LBS-Werbespot, in welchem ein Kind seinem Vater, der augenscheinlich ein Aussteigerleben führt, unterbreitet: „Wenn ich groß bin, will ich Spießer werden“, erkennt man, dass es ein Kampfbegriff ist, der sich mit quasi beliebigem Inhalt füllen lässt (wie zum Beispiel auch Neoliberalismus). Ein Begriff, den jeder für sich selbst, seiner eigenen Sozialisation entsprechend, gestaltetet.



Aber wenn es tatsächlich so ist, dass alles – je nach Kontext – spießig oder das Gegenteil sein kann, dann gibt es ja scheinbar nichts, das per se einem Etikett des Spießertums gleichkommt und die Diskussion verläuft sich in der Endlosigkeit.



Spießiges mit Absolutheitsanspruch



NEIN sag ich, es gibt ein paar Absolutheiten, die für sich in Anspruch nehmen können immer spießig zu sein.



1. Louis Vouitton-Produkte kaufen



2. Füller von Mont Blanc verwenden



3. Kaffee und Kuchen an Sonntagen



4. CSU wählen



5. Manschettenknöpfe tragen, die keinen Totenköpfen ähneln



6. Nicht über sich lachen, wenn man hinfällt



7. Nicht über Kacken, Kotzen und Körperflüssigkeiten reden können



8. Nur über Kacken, Kotzen und Körperflüssigkeiten reden können (gell, Charlotte?!)



9. Bücher gut finden, nur weil ein großer Autor der Verfasser ist



10. sich zu viele Gedanken übers Spießertum zu machen…

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