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Scheiß Polystyrol

Text: Luscinia

Wir sitzen bei erbarmungslos süßem Sekt in deinem alten Kinderzimmer und ich lüge, als du mich fragst, warum ich denn bloß schlussgemacht hätte. Ich kann dir nicht sagen, dass es die Geschichte mit der Styroporplatte war, die mir die Liebe oder was auch immer nahm.



„Ihr wart so ein schönes Paar.“, sagst du  und ich denke darüber nach, wie gut du mich eigentlich noch kennst, von ihm einmal ganz zu schweigen. Ihr habt Euch vielleicht zweimal gesehen an Weihnachten oder Silvester, an irgendeinem dieser Feste, an dem keiner um seine Vergangenheit herum kommt. Ich lüge Dir also was von unterschiedlichen Vorstellungen von Zukunft vor, „Wir haben uns einfach auseinander gelebt.“, so einen albernen Erwachsenen-GuteZeitenSchlechteZeit-Müll eben.



Tatsächlich hatte er eine Styroporplatte an der Wand neben der Geschirrspülmaschine angebracht. Dafür war er zum Baumarkt gefahren, hatte Styropor und beidseitiges Klebeband gekauft, mit einer Laubsäge ein perfektes Rechteck gesägt und eine Stunde Lebenszeit für die Anbringung dieser  gepressten Plastikplatte an der guten alten Steinmauer des renovierten Lagerhauses geopfert, in dem er mit zwei Freunden wohnte. Ich würde Dir gern sagen, dass es dieser Moment war, als mir klar wurde, dass ich keine einzige Stunde mehr für ihn opfern würde können. Aber ich kann es nicht, weil ich es selbst nicht fassen kann, wie verdammt oberflächlich und kleinlich ich geworden bin und wie sehr ich mich verloren habe in diesem Blödsinn, der eigentlich nichts bedeutet. Und für mich irgendwie doch alles.



Ich muss lachen, er rührt gerade in seiner Bolognesesoße herum, die er „ansetzt“ seit zwei geschlagenen Stunden, ohne dass ich auch nur einen getrockneten Thymiankrümel zwischenwerfen könnte, geschweige denn etwas darüber, dass ich eigentlich zum Essen vorbeigekommen sei und nicht zum Kochen gucken. „Was ist denn das?“, frage ich und zeige in Richtung der Spülmaschine. „Ein Spritzschutz.“, sagt er nüchtern, ohne aufzuschauen. „Ein was?“ – „Ein Spritzschutz. Du weißt schon, für Jan und Timo, die werfen die halbvollen Gläser immer so in die Maschine.“ – „Und?“, frage ich und zugegeben, provoziere ihn. „Du weißt schon, die ganze Wand war voller Flecken.“, sagt er.



Ich will dir sagen, wie er immer „Du weißt schon.“ sagt, als wüsste ich genau, was er meint. Als wäre seine Lebenswelt auch meine, als wüsste ich, was da vorgeht in seinem Kopf, wenn er drei Kilometer im Regen zum Baumarkt radelt, um Styropor für einen Spritzschutz zu kaufen. Aber die Wahrheit ist, ich habe keinen blassen Schimmer.



„Du hättest die Wand auch  einfach überstreichen können.“, schlage ich ihm vor und necke ihn: „Der Flecken wegen. Du weißt schon.“ – „Das hält allerhöchstens eine Woche bei denen hier. Die scheren sich da nicht drum, weißte. Die sind auf dem Ohr taub. Das wird nur wieder dreckig. Reichste mir das Salz?“ Ich halte es ihm hin, ohne den Blick von der Styroporplatte an der Wand zu lösen und verzweifle an ihr, direkt, hier in der Küche. „Aber ich versteh das nicht. Ein Spritzschutz? Wofür?“ Er verdreht die Augen. „Für die Flecken, Mädchen. Ich dachte nicht, dass das so schwer zu verstehen ist?“ „Doch, du. Das ist ziemlich schwer zu verstehen für mich.“ Ich rege mich fast auf jetzt: „Jeder der hier in die Küche kommt, wird sich jetzt denken, was das für eine Scheißplastikplatte an der Wand ist.“ Er zuckt bloß mit den Achseln. „Oder nimmste sie ab?“, frage ich ihn. „Für besondere Anlässe? Für Besuch? Damit nicht jeder Fremde denkt, was das für eine alberne Geschichte mit dieser Styroporplatte ist?“  – „Ich glaube, kaum einer wird sich so sehr darüber Gedanken darüber machen wie du gerade.“ sagt er, den Kochlöffel noch immer in der Bolognese. Ich lache, fast gehässig jetzt: „Wer von uns beiden ist bei dem Pisswetter raus, um den Berg zum Bahr hochzufahren, du oder ich? Ich hätte auf die blöden Flecken geschissen.“ – „Was du nicht sagst.“ – „Was soll das denn jetzt heißen?“, frage ich ihn wütend. „Nichts. Naja, nur dass du dem Timo und dem Jan in Sachen Sauberkeit nun auch nicht viel voraus hast.“



Ich kann es nicht leiden, wenn er vor den Vornamen einen Artikel setzt, aber auch das kann ich dir nicht erzählen. Denn eigentlich geht es ja um die Styroporplatte oder nein, eigentlich geht es darum, dass ich ihn nicht mehr verstehe oder noch nie verstanden habe, oder nein, eigentlich geht es um mich, natürlich geht es um mich und wie wenig ich für diese Sauberkeits-Fleckenfreie-Beziehungskiste geeignet bin. Für all das, was er will und du auch bestimmt, nur ich nicht.



Ich fasse es nicht. „Hast du denn die Wand gestrichen? Ich mein, unter deinem super Spritzschutz hier?“ frage ich ihn. „Nein, eben nicht. Ich hab  dir doch gerade gesagt, dass das keine Woche sauber hält.“, sagt er. „Du willst mir erzählen, dass Du einen Spritzschutz für eine fleckige Wand gemacht hast? Wirklich?  Willst Du mich verarschen?“ An diesem Punkt bin ich wirklich wütend. Ich schüttele den Kopf. „Du hast sie nicht doch nicht mehr alle.“ sage ich und sein Rühren kommt zu einem Halt: „Bitte? Was geht hier eigentlich gerade? Kannst du mir mal sagen, was dein Problem ist?“  - „Ist das nicht offensichtlich? Deine blöde Styroporplatte hier. Niemandem außer dir wären diese blöden Flecken aufgefallen, aber du kannst sie nicht ertragen. Nein, stattdessen bastelst du dir einen Sichtschutz, der jedem blinden Idioten ins Auge fällt.“  Jetzt schüttelt er den Kopf. „Ich glaube, du hast zu viel Zeit übrig. Vielleicht solltest du mal lieber was machen, lernen, arbeiten, weißte sowas. Und dir nicht über so eine alber-“ –  „Und in einer Woche hast du eine dreckige Styroporplatte! Eine dreckige Styroporplatte über einer fleckigen Wand! Fällt dir eigentlich auf, wie oberaffenhohl diese Sache ist. Beschissenhohl.“ unterbreche ihn, aber er hebt jetzt den tomatenroten Löffel: „Lass das doch verdammt noch mal meine Sache sein. Lebst du hier? Nein! Das kann dich einen Scheiß interessieren, meine Liebe.“ schreit er plötzlich. „Ein Glück!“, schreie ich zurück: „Ein Glück, dass ich nicht hier lebe. Sonst müsste ich Angst haben, dass ich auch bald einen Sichtschutz brauche. Damit ich in deiner achsoperfekten Welt nicht schräg auffalle. Ich bin so froh, dass ich Mister Perfect hier nicht dauernd ausgesetzt sein muss! Ihm und all seinen Kackansprüchen!“ – „Mister Perfect? Ist das dein Ernst?“ – „Und weißte, was das Schlimmste ist, du? Weißte was das Allerschlimmste ist?“ – „Du wirst es mir gleich sagen, befürchte ich.“ – „Du bist genauso scheißdreckig wie wir alle. Unter deinem ganzen albernen Gehabe bist Du genauso durch und fleckig wie wir alle. Wie diese verdammte Wand. Du bist nicht einen Deut besser als ich. Nicht einen, verstehst du.“ Ich weine vielleicht ein bisschen und als er lacht, unterdrücke ich eine Ohrfeige. Er aber hat seinen Holzlöffeln zurück in die Soße getaucht und rührt in übertrieben gleichmäßigen Bewegungen, als er sagt: „Ich kenne niemanden außer Dich, der so eine Geschichte gleich wieder auf sich beziehen muss. Du hast echt Probleme! Echte Probleme, meine Liebe, Du weißt das schon, oder?“ Ich weiß nicht, ob er es diesmal tatsächlich als Frage gemeint hat, ich aber sage nichts. Ich drehe mich um, breche ein Stück des Styropors von der Wand und werfe es ihm vor die Füße,  ganz die theatralische Furie, die ich bin.



„Es hat einfach nicht gepasst, glaube ich.“ Ich schaue dir entgegen, alte Freundin, die du bist und lächele, drehe das Sektglas in meinen Händen. „Wahrscheinlich nicht.“, sagst du und wischt ihn mit einer Handbewegung fort aus unserem Gespräch: „Es gibt ja bekanntlich noch andere Fische, oder? Wer will sich denn jetzt schon festlegen.“ Ich nicke dir zustimmend zu, obwohl ich weiß, dass du weißt, das ich weiß, dass du es willst und er es will und alle es wollen: sich endlich festlegen nämlich. Aber ich sitze hier bei dir wie bei ihm, unermüdlich auf der Suche nach Gefühl. Mein Kopf ist rastlos, meine Gedanken sind eine Mühle und ihr Mahlen ist euch fremd.

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