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Engel ohne Flügel.

Text: MissTagtraum
Dass ich an einem 24.12. einmal hier stehen würde, hätte ich auch nicht gedacht. So kann man sich täuschen.

Ich zog mir meinen weißen Kittel über den Kopf, schlüpfte in meine hellblauen Schuhe, packte meine Tasche und schlenderte aus der Umkleidekabine. Im Stationszimmer herrschte reges Treiben, der Frühdienst zeichnete die letzten Tätigkeiten ab, ich schnappte mir einen Zettel, zog meinen grünen Stift aus meiner Kitteltasche, richtete mein Namensschild ein letztes Mal zurecht und sah in die umliegenden Gesichter. Es zeichnete sich Unlust und Frust in ihnen ab, aber vereinzelt auch Freude und Zuversicht. "Frohe Weihnachten!" - der Schüler im dritten Lehrjahr gesellte sich zu uns. "Ich liebe Weihnachten!" Er strahlte über das ganze Gesicht. Gut, dass ich meinen Nachmittag mit ihm verbringen darf. Alles andere wäre nur krampfhaft geworden.

Nachdem ich über die neusten Neuigkeiten aufgeklärt wurde, wir eine handvoll Plätzchen verdrückt und ausgiebig gelacht hatten, packte der Frühdienst seine Sachen und ließ uns allein. Ich musste mich kurz sammeln, darüber nachdenken, was ich als erstes tue. Ich schnappte mir einen Stapel Liebesromane, diese Arztromane, die ältere Frauen so gerne lesen, und spielte Christkind. "Klopf, klopf! Lesen Sie gerne?" Eine Dame, Mitte achtzig, sah mich mit großen Augen an. "Schwester Sabrina, ja! Und Sie wissen gar nicht, was für eine Freude Sie mir damit machen!" Ich drückte ihr fünf dieser Blättchen in die Hand, schenkte ihr ein Lächeln, eines meiner großen, von Herzen kommenden Lächeln, und verschwand wieder.

Es gab Kaffee mit Plätzchen und Stollen und Lebkuchen und Spekulatius, ich sauste schwebend durch den Gang, meine Lippen kräuselten sich immer wieder, alles fühlte sich richtig an. Es war viel Besuch da, alles wirkte friedlicher und gesammelter, alles war auf seine Weise irgendwie ruhig und doch nicht leise. Überall war Leben.

Ich erledigte anfallende Arbeiten, stellte Tropfen und Tabletten, kümmerte mich um Bewohner, die alleine nicht mehr zurecht kommen, und ließ es mir nicht nehmen, zwischendurch immer mal wieder ältere Herren zu drücken. "Sie sind ein sehr netter Mensch!" Herr. H. strahlte mich an. "Und Sie sind ein Charmeur!" Wir lachten und grinsten und er schritt hohen Hauptes mit seinem schicken Rollator von dannen.

Es gab Abendessen. Typisch Weihnachten, Bratwurst mit Sauerkraut. Ich saß bei Herrn R. und versuchte, ihn zum Essen zu überreden. Manchmal hat man Glück, manchmal nicht. Heute lief es eher weniger gut. Aber das ist auch okay, nur nichts erzwingen.

Die ersten Herrschaften wollten ins Bett, ich griff nach dem Rollstuhl einer Dame und brachte sie in ihr Zimmer. Als sie ihm Bett lag, sah sie mich an und wünschte mir eine gute Nacht. Es war halb sieben. An manchen Tagen macht mich so eine Tatsache klein und unsicher, ich komme ins Grübeln und empfinde schrecklich viel Mitleid. Heute nicht. Ich strahlte. "Gute Nacht, schlafen Sie gut! Ich schaue später noch einmal nach Ihnen."

Ich flitzte über die Station, nahm meine liebste Oma an der Hand, steckte ihr noch ein paar Plätzchen zu und berichtete ihr zum fünften Mal an diesem Tag, dass heute Heiligabend ist. In zehn Minuten wird sie es wieder vergessen haben.

Nachdem der Großteil der Bewohner im Bett lag, klopfte ich noch einmal bei der Frau, der ich die Arztromane zugesteckt hatte. "Guten Abend, ist alles in Ordnung bei Ihnen?" - "Sabrina, der Engel ohne Flügel! Ja, danke!" Sie ergriff meine Hand, in ihren Augen sammelten sich Tränen, sie drückte immer fester zu, ich platzte fast vor Liebe. "Sie wissen gar nicht, was Sie für mich getan haben. Ich danke Ihnen so sehr!" Ich lächelte sie an, hielt ihre Hand und nickte. In solchen Momenten, wenn alle Worte fehlen, ist Stille die einzige Möglichkeit, sich angemessen auszudrücken.
Ich wünschte ihr eine gute Nacht, ein paar schöne Feiertage und einen guten Rutsch und verabschiedete mich von ihr mit den Worten, dass ich am fünften Januar wieder bei ihr sein werde. "So lange? Oh..."

Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, fühlte ich mich ganz warm. Von innen heraus, von ganz tief unten. Es war Heiligabend, abends halb acht. Ich verbrachte diesen Tag nicht mit meiner Familie, nicht mit den Menschen, die ich liebe, ich verbrachte ihn mit Menschen, die so alt sind, dass sie meine Groß- und Urgroßeltern sein könnten. Und ich wusste wieder, weshalb ich das tat. Denn nichts fühlt sich besser an als die Dankbarkeit zu spüren, die diese Menschen zu geben haben. Ich hätte diesen Tag nicht anders erleben wollen. Ich würde es immer wieder tun.

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