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„Ich hoffe nur, dass es am Ende nicht die Vampire sind.“

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Jonathan Fitzgerald, 31, ist Autor für verschiedene US-amerikanische Magazine und lehrt Journalismus. In wenigen Wochen wird sein Buch „Not Your Mother’s Morals: How the New Sincerity is Changing Pop Culture for the Better“ als E-Book erscheinen. Darin beschreibt er die Abkehr der Popkultur von Ironie und Zynismus hin zu einer neuen Ernsthaftigkeit.

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Illustration: Julia Schubert

Jonathan Fitzgerald beschreibt in seinem Buch die "New Sincerity" in der Popkultur.
   
jetzt.de: In deinem Buch schreibst du, dass die Popkultur der vergangenen Jahre von der New Sincerity, also der „neuen Ernsthaftigkeit“ geprägt sei. Was genau ist das und wann ist sie das erste Mal in Erscheinung getreten?
Jonathan Fitzgerald: Die New Sincerity ist in den 80er-Jahren in den USA aufgekommen, vor allem durch Rockbands, die nicht ironisch sein wollten, die nicht versucht haben, cool auszusehen, sondern die nur sie selbst waren, wie zum Beispiel die Wild Seeds oder The Smiths. In den 90er-Jahren ist diese Haltung auch im Film angekommen, zum Beispiel bei Judd Apatow und Wes Anderson. Sie wollten nie Distanz oder Pose zwischen sich und ihr Publikum bringen, sondern waren immer ernsthaft und authentisch. Vor allem seit dem 11. September 2001 spricht das Publikum mehr als jemals zuvor auf diese Art von Popkultur an. Die Menschen wollen keine Ironie mehr, es geht ihnen darum, Wahrheit in einer Geschichte zu finden.
 
Du bist in einem konservativen Umfeld aufgewachsen und streng evangelikal erzogen worden. Popkultur war in deiner Kirche ein Tabu. Wie bist du trotzdem damit in Berührung gekommen?
Aus irgendeinem Grund haben meine Eltern meine Schwester und mich nicht-christliche Musik hören und Filme anschauen lassen, all diese Dinge, die unseren Freunden verboten waren. Meine Pastoren in der Kirche sagten, dass man das nicht tun soll, aber meine Eltern sagten: Entscheide selbst, ob das gut oder schlecht für dich ist.
 
Wie hat euer Umfeld darauf reagiert?
Niemand kam zu uns und sagte, dass wir das nicht machen sollen. Aber selbst, wenn die Eltern meiner Freunde nicht wollten, dass sie "Ninja Turtles" oder "Ghostbusters" schauen, haben sie durch mich davon erfahren. In der Middleschool war ich Batman-Fan, das hat einige Eltern beunruhigt. 
 
Du schreibst auch, dass die Kunst vor der New Sincerity zynisch und ironisch war. Wie hat sich das geäußert?
Meine Frau und ich haben gerade "Men in Black 3" geschaut. In einem Teil des Films reisen sie in die 60er-Jahre und treffen Andy Warhol. Er wurde so dargestellt, als ob er seine Arbeit selbst hassen würde, weil sie so künstlich und unaufrichtig ist. Das hat mich an diese Distanz erinnert, die die Menschen zwischen sich und ihre Kunst gesetzt haben und versucht haben, irgendwie ironisch damit umzugehen. 
 
Aber ist das nicht manchmal der richtige Weg, um Fortschritt zu provozieren?
Natürlich! Es gibt Platz für Ironie und für Zynismus, ich nutze sie auch selbst. Es muss aber eine Balance geben. Ich bin froh, dass Ironie und Zynismus nicht die übermächtigen Haltungen unserer Zeit sind. 
 
Eines deiner Beispiele für zynische Popkultur ist Madonna, eines für die New Sincerity Lady Gaga. Was ist der Unterschied zwischen den beiden Künstlerinnen?
Es ist ein subtiler Unterschied, aber ein sehr wichtiger. Als Madonna in den 80er-Jahren das erste Mal in Erscheinung trat, wollte sie überlebensgroß, unnahbar und rebellisch sein, Aufmerksamkeit erregen und nichts erfüllen, was die Gesellschaft erwartet. Lady Gaga hat mit ihr eine Menge Gemeinsamkeiten, zum Beispiel, dass sie sich auch sehr verrückt anzieht. Das kann so wirken, als wolle auch sie sich von ihrem Publikum distanzieren, aber ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Denn Lady Gaga macht sich hässlich und damit normal – in einer extremen Version von normal. Sie versucht nicht, besser zu wirken als du, sondern schlechter. So kann sie ihre Botschaft vermitteln, ohne moralisierend zu wirken. 
 
Du schreibst auch, dass die New Sincerity unsere Moralvorstellungen beeinflusst. Wie genau passiert das?
Die New Sincerity erlaubt den Menschen, über Moral nachzudenken, ohne dass sie sich zu religiös oder konservativ fühlen müssen. Und dadurch ebnet sie den Weg für eine neue Moral.

Ersetzt Popkultur die Religionen, die früher die Moralvorstellungen der Gesellschaft geprägt haben?
Ich würde nicht sagen, dass Popkultur diese Institutionen komplett ersetzt. Aber sie zersplittern immer mehr. Man kann nicht mehr sagen „Jeder geht am Sonntag in die Kirche.“ Aber wir können sagen „Jeder schaut diesen Film und diese Serie und jeder hört diese Musik“. Popkultur ist in den letzten Jahren der Aspekt geworden, der uns am meisten verbindet. 
 
Bedeutet das auch, dass wir den Glauben auf die Popkultur übertragen?
Es gibt viele Studien, die belegen, dass die am schnellsten wachsende religiöse Gruppe die der Konfessionslosen ist. Sie glauben an etwas, aber nicht unbedingt ans Christentum, den Islam oder eine andere spezifische Religion. Es gibt verschiedene Repräsentationen gottähnlicher und übernatürlicher Charaktere in der Popkultur, zum Beispiel Superhelden und, obwohl ich kein großer Fan davon bin, die Vampire, die gerade so populär sind. Das zeigt, dass wir an etwas glauben wollen, das größer ist als wir und das über uns hinausgeht. Wir haben uns noch nicht festgelegt, was das ist. Ich hoffe nur, dass es am Ende nicht die Vampire sind.
   
Eine Serie, die dich als Kind besonders beeinflusst hat, ist "Full House", weil sie dir das Bild einer nicht-traditionellen Familie gezeigt hat. Wann traut sich Popkultur, so etwas zu zeigen? Spiegelt sie nur das wider, was da ist, oder sagt sie kommende Entwicklungen voraus?
Ich denke, sie tut beides ein bisschen. "Full House" hat etwas gezeigt, das ich wiedererkannt habe: Drei Schwestern, ein Onkel, ein Single-Vater. Aber es gab auch sehr ungewöhnliche Punkte: Drei Männer in einem riesigen Haus in San Francisco ziehen drei Mädchen groß und machen dauernd verrückten Sachen. Ich denke, dass die besten Serien uns etwas zeigen, das wir kennen, sodass wir uns damit wohlfühlen, aber uns dann auch darüber hinaustreiben. Ein Beispiel dafür ist "Modern Family". Da gibt es verschiedene Arten von Familien. Eine sieht aus wie die von meiner Frau und mir, aber es gibt auch welche, die nicht Teil meiner persönlichen Erfahrung sind. Dadurch werden wir angeregt, Neues zu akzeptieren und uns daran zu gewöhnen.
 
Du erwähnst die Obama-Kampagne von 2008 und dass sie genau den Nerv der jungen Wähler getroffen habe. Warum?
Seine Kampagne hatte das Bewusstsein für die Bewegung, die unter den jungen Menschen entstanden ist – eben für die New Sincerity, ob sie die nun so nennen oder nicht. Die Beteiligten haben gesehen, dass die Menschen diese innere Idee von Hoffnung und Veränderung wollen. 
 
Welche Künstler repräsentieren am besten die New Sincerity?
Im Film Wes Anderson, vor allem „Moonrise Kingdom“ und mein Lieblingsfilm, „The Royal Tenenbaums“. Diese Filme haben gemeinsam, dass die Charaktere kämpfen, um herauszufinden, wer sie sind und wie man richtig miteinander umgeht. In der Musik Sufjan Stevens oder The Arcade Fire. Interessant ist, dass es jetzt auch im HipHop auftaucht, zum Bespiel durch Frank Ocean. Für Serien ist "Glee" ein Beispiel, denn da geht es um das große Versprechen, dass wir alle einzigartig sind und dass jeder geschätzt werden soll. In der Literatur kann man David Foster Wallace oder Jonathan Franzen nennen.
 
Gibt es denn auch noch die ironische, „unaufrichtige“ Popkultur?
Ja, definitiv. Ich versuche immer herauszufinden, an was aus unserer Zeit sich die Menschen später wohl erinnern werden, und da dann den Fokus drauf zu legen. Und ich denke eben, dass wir mehr auf der New Sincerity-Seite stehen. Aber neulich, als ich gerade die letzten Seiten des Buchs geschrieben habe, habe ich die "American Music Awards" angeschaut und eine Performance von Nicki Minaj gesehen. Da dachte ich: Oh nein, das ist das Gegenteil von allem, was ich gerade gesagt habe! Es ist so künstlich und nur darauf ausgelegt zu schockieren, ohne irgendeine Wahrheit zu kommunizieren. Es gibt da draußen noch eine Menge von der anderen Popkultur.


Text: nadja-schlueter - Foto: oh

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