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Anselm Reyle - MYSTIC SILVER … eine Stadt wird sich zum Rätsel.

Text: HEDunckel






Eine ebenso rotunde wie stringente Beschreibung von Mystik (als Geheimlehre der Eingeweihten) geben zu wollen, scheitert daran, dass Außenstehenden in diesem konkreten Fall das Wissen von Insidern nicht wie bei simplen Programmen oder Computerspielen vermittelt werden kann. Ein Phänomen außerordentlicher Widersprüchlichkeit fordert Annäherungen transkognitiver Dimension und kann sich erst aus meta-programmierender Operativität generieren. So legte zum Beispiel, viele Jahre nach dem Tode des spanischen Mystikers „San Juan de la Cruz“, ein Segelschiff mit chinesischen Mönchen im Hafen von Valencia an und diese fragten dort nach dem Meister. Es handelte sich um eine Art von spirituellem Tourismus. Ein christlicher Missionar hatte einige der berühmten Gedichte des Meisters ins Mandarin übersetzt, und die Eingeweihten aus dem fernen Orient waren davon derart begeistert, dass sie sich umgehend auf die Reise machten. Eine nur Insidern bekannte Geschichte, die jedoch im Kontext auch schon einer Strophe des Meisters, mehr über Mystik auszusagen vermag, als die meisten, sonst dazu geschriebenen Worte: „Dieses Wissen ohne zu wissen ist eine derart große Macht, das die Gelehrten die sich streiten nie zu Siegern macht: Ihr wissen kommt nicht, solang sie nicht nichtwissend verstehen … alles Wissen transzendierend.“







Heute generieren sich nahezu alle gesellschaftlichen Probleme auf unserem Planeten aus den Restbeständen einer uns verbliebenen „kartesischen Mystik“. Die vielen makro- wie mikro- subjektivistischen Positionen, welche sich mittels nicht mystischer Rezepte, post-renaissancezeitlich gezielt und über eine extreme Insistenz, progressiv als artifizielle und institutionalisierte Homogenität verschreiben konnten, verweigern sich sämtlichen Ansätzen von Heterogenität. Wir sprechen von Methoden zur Erlangung gewisser, so genannter Seelenzustände, die, für nicht Eingeweihte und von Außerhalb betrachtet, vielfach Ekel erregend anmuten mögen und oft auch tatsächlich die Würde des Menschen verletzen. Allein schon das homogene Schweigen ausgrenzender Minderheiten, der so irrational idealistische Verfall vom Bild der Welt und des Menschen, sowie ein notorischer Mangel an Dialogizität führen meist, jenseits aller Logik, zu Resultaten ethischer wie ästhetischer Defizienz. Deshalb forderte diese Zwiespältigkeit und Widersprüchlichkeit der Mystik, die aus ihren historischen Kontexten resultierenden, unterschiedlichen Prägungen einer progressiven und einer repressiven Seite dieser (Silber-)Münze, schon seit jeher klare und strenge Unterscheidungen bezüglich inhärenter Intentionen. Wobei intentionale Abwesenheit eine „unio mystica“ zu generieren vermag, das Silber aber einen Reichtum an Intentionen verkörpert, der das Reich der „unio“ bereits verlassen hat. Interessant: Silber generiert Kompatibilität, sogar zwischen antagonistisch anmutenden Homogenitäten.









Die Präsentation dekorativer Elemente in den Deichtorhallen wird so aufgrund ihrer scheinbar inhaltlichen Leere zur „tabula rasa“ in einem Stadtbild homogener Prägung: „Zurückliegendes Gedankengut wird neu rezipiert, in aktuelle, allgemein zugängliche Formulierungen übersetzt und zugunsten einer begehbaren Installation intensiviert.“ - „Diese zwischen Architektur und Bildhauerei oszillierenden, haptisch-visuellen Arbeiten fügen sich trotz des breiten Material- und Formen-Spektrums zu einer kohärenten Erscheinung. (Anselm) Reyles im Hauptraum ausgestellten Exponate unterliegen dabei einer doppelten Reflexion: Sie spiegeln sich nicht nur verzerrt in den Folienwänden, sondern auch gegenseitig im wiederholten Aufgreifen einer spezifischen Formensprache und eines künstlerischen Materialrepertoires, für das er Fundstücke aus dem urbanen Feld und Trash aus der 'low-culture' verwendet.“ (Presse-Info) – Mit anderen Worten: Wir bewegen uns fortan in undefinierten Dimensionen, werden uns hier zum Rätsel unseres eigenen Selbst und erkennen, wie Mystik schon immer eine Reaktion gegen die Dominanz von fruchtlosen, inhaltlich leeren und formalistisch artifiziellen Spekulationen herrschender Dogmatiker war.







Auf diesem Niveau müssen wir natürlich der Dialektik von Mystik gerecht werden: Was dem Eingeweihten in einer optimalen Heterogenität als pro-haptisch begegnen mag, des-visualisiert sich bei Akteuren homogener Prägung bereits im Vorfeld. Wir erkennen: Weihe ist nicht gleich Weihe. Ebenso wie das selbe Wort, kann das selbe Material, ein selber Ton oder eine selbe Farbe, völlig unterschiedlich und sogar widersprüchlich in performativen Sinn-Konstellationen auftreten. Handelt es sich beim Material um Silber, muss sogar mit widernatürlichen Reaktionen gerechnet werden, und für den aufmerksamen Beobachter spiegeln sich eben all diese expedientellen Defizite wie perzipientellen Distortionen in der jeweiligen situativen Ästhetik. Hier zeigt sich auch ein Grad an Therapiefähigkeit der beteiligten Adepten. „Die Tatsache, dass der Mensch Vernunft und Vorstellungsvermögen besitzt, führt nicht nur dazu, dass er ein Gefühl seiner eigenen Identität braucht, er muss sich auch geistig und gefühlsmäßig in der Welt orientieren.“ (Erich Fromm - „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ - S.67) – In einer durch ästhetische, ethische und logische Entstellungen kontaminierten Welt, wo alle Bemühungen des Weiterkommens schon seit Zeiten in den warnend zur Populär-Metapher gewordenen „Holzwegen“ enden, scheint unser Pfad also nur noch im Übersinnlichen weiter führen zu können.







Hier beginnen zeitgenössische Entwicklung immer mit der Umkehrung von Vorzeichen; allein schon um einer gewissen Art an therapeutischer Paradoxie gerecht zu bleiben, die als Konflikt lösende Methode der Mystik stets zu eigen war. Wir lesen die Bilder und erkennen ihren Sinn. Wer nicht mit verstärkter Unabhängigkeit darauf reagiert, verfällt leicht einem unfruchtbaren Zynismus oder gar einer Destruktivität, die er bis gegen sich selbst hin wendet, ohne dabei für weitere Grade an Differenziertheit offen zu bleiben. Ganz kohärent begegnen uns in der großen Deichtorhalle Fundstücke aus dem urbanen Feld, lassen Probleme als Illusionen einer nicht zeitgemäßen Architektur zwischen Morgen und Gestern, zwischen Vision und Untergang oszillieren. Teile von einst glorreichem Design pompöser Fassaden, werden in ihrer Vergänglichkeit zu „trash“ (Müll) einer „low-culture“ (minderwertigen Kultur) – um jedoch geschickt inszeniert und modern hinterleuchtet Hoffnungen für zukünftige Nutzungen zu wecken. Und mit einer Portion an gesundem Humor fragend: Vielleicht eines Tages auch für die Fassaden-Teile der Elbphilharmonie? - Eine als „Heuwagen“ archaisierte Luxus-Karosse und ein von einem kitschigen Kreuz gekrönter, authentischer Grabstein (dessen Maserung übrigens die einzige überzeugende Darstellung einer ästhetischen Position zeigt), die die Installation flankieren, machen hier das Visuelle nicht nur haptisch, sondern sogar intelligibel. Die Reflexion wird multiple, wenn dem aufmerksamen Beobachter auf dem Rückweg ein nacktes Fassaden-Stück entgegen lächelt, und silberne Stroh-Ballen zur Rechten fragen: Was ist eigentlich in euren Köpfen … auch wenn es versilbert scheint?







Schade, dass diese Inszenierung, eines als zielstrebig und unprätentiös angekündigten Künstlers, bereits im Vorfeld durch an den Haaren herbeigezogene Bezüge, zu fast allen Stilen von der Gotik bis hin zur Moderne, zum Wundermittel aktueller Kunst versprochen und verschrieben wurde. Wenn Deichtorhallen-Leiter Dirk Luckow von einem „barocken Welttheater“ spricht, zeigt gerade das wiederholte Aufgreifen der spezifischen Formensprache und des künstlerischen Materialrepertoires, dass hier nicht „Mutwillig über Geschmacksgrenzen“ (Hamburger Abendblatt) hinaus gegangen wurde, sondern, entgegen einer etymologischen Deutung von „barroco“ als „unregelmäßig“, das „Sonderbare“ im Regelmäßigen zu finden ist. Rezepte wie „eine Neon-Röhre macht jeden alten Eimer zu einem Objekt der Arte-Povera“ vulgarisieren kunsthistorische Kontexte bis hin zur Absurdität. Die Kunst an sich wird hiermit ihrer historisch hart umkämpften Inhalte beraubt, und wenn derart kontra positionelle Interpretationen von den Kanzeln der Akademien in die Geister junger, unerfahrener Adepten gelangen, wird dort eher Zukunft entmystifiziert und als Untergang vermittelt. In den beiden kleinen Räumen, rechts vom Tages-Licht-Bereich, kann dann sogar das visuell ungeübte Publikum haptisch nachvollziehen, wie die dekorativen Objekte in reduzierten Dimensionen ihre Ausstrahlung verlieren. Zu leicht werden nicht die Fundstücke selbst, sondern deren vermeintliche „Verklärung“ zum Trash-Produkt einer sich grandios inszenierenden „low-culture“.







Doch ist ein großer Fortschritt zu würdigen: Endlich rücken auch in Hamburg an prominenter Stelle mögliche, post-suizidale Zustände einer zu sehr an gängigen Strickmustern orientierten Expansion ins Bild. Schon in den Phoenix-Hallen (Süderelbe) konnten wir bei Monica Bonvicini lesen: „Architecture is the ultimate erotic act. Carry it to excess and you'll die.“ ... und jetzt präsentiert sich eine ähnlich kritische Ausstellung an der Norderelbe. Wer hätte derart eindeutig radikale Positionen von Herrn Falckenberg oder gar Herrn Luckow erwartet? - Zumal in einer aktuellen, sehr problematischen Situation? - Wo sämtliche Stadtplanung der letzten Jahre bezeugt: Kommunikative Defizite zeigen sich in ihren sub-optimalen Resultaten. - In diesem Zusammenhang auch eine organisatorische Kritik: Beide Ausstellungen hätten aufgrund der kontextuellen Bezüge, parallel zum IBA-Sommer 2013 (wie auch schon die Präsentation der Julia Stoschek Collection parallel zur letzten Triennale der Photographie) stattfinden sollen. Gerade bei den Organisatoren der Internationalen Bauausstellung war nämlich bezüglich kritischer Positionen bisher nur eine Art Kunst-Phobie zu diagnostizieren, obwohl international und lokal ein ebenso intelligentes wie gesundes Potential an Ausdrucksweisen vorhanden ist. - Holzweg oder Speedway? - Solange wir nicht nichtwissend verstehen, bleiben uns Wissen, Kunst und Leben anscheinend tatsächlich unverständlich. Hingegen: Allzu leichtgläubige Opfer einer „a priori“ manipulierten Aufklärung und Moderne scheinen heutzutage dem Aberglauben erlegen zu sein, erst sie hätten die Welt erfunden.

Holger E. Dunckel



P.S.: Ich weise hiermit ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei den photographischen Abbildungen nicht um eine Dokumentation der in der Ausstellung gezeigten Objekte handelt, sondern um ganz individuelle „Reflexionen einer Ausstellung“, die ich beim Presse-Empfang und am Eröffnungsabend gemacht habe. Es handelt sich also um eigene Kunstwerke, die zu den Arbeiten von Anselm Reyle eine größere Distanz ausweisen, als seine eigenen Zitate der Kunst, wie zum Beispiel beim „Malen nach Zahlen“. Außerdem spricht sich Anselm Reyle selbst für eine Nutzung vorhandener Quellen aus: „Ich schätze diese vorgefertigte Kreativität. Das ist was für Leute wie mich, denen nix einfällt.“ (Zitat: Hamburger Abendblatt)

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