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Ta mi bere

Text: KatharinaK

Es riecht muffig im Waggon, und man sieht den rosa-blauen Sitzen der ersten Klasse deutlich an, dass sie ihre besten Zeiten schon lange hinter sich haben. Aber mir gefällt das antiquierte, unzeitgemäße. Es passt zu meiner Reise. Auch sie führt mich zurück.



Behäbig setzt der Zug sich in Gange, wir rollen aus dem Hamburger Hauptbahnhof hinaus. Neben mir meine beste Freundin Franzi, uns gegenüber mein Papa. Für Papa ist es eine Reise in die Heimat. Für Franzi ist es das erste Mal Prag. Für mich ist es: beides. Ich kann nicht zählen, wie oft ich schon da war, in dieser heiß geliebten Stadt. Das erste Mal als Baby, dann alle zwei bis drei Jahre mit den Eltern und meinem Bruder. Aber seit ich fünfzehn war, war immer Torben an meiner Seite. Zehn lange Jahre. Jetzt ist Torben tot.



Franzi liest im Reiseführer, Laterna Magica, Kafka, Svícková, für sie eine neue Welt. Ihre Hand legt sich ruhig auf meine. Sie weiß, wohin meine Gedanken fliegen, während ich aus dem Fenster schaue. Erinnerungen. So viele Bilder. Er wird an vielen Ecken auf mich warten: auf der Karlsbrücke, zwischen den langhaarigen Gitarrenspielern. Am Fuße der Burg, wo er mir auf der langen Treppe einmal eine wunderschöne Liebeserklärung gemacht hat, so leise, dass ich sie zwar nicht richtig habe hören, aber fühlen können. Auf der Kampa. Bei den kleinen Halbinseln.



Wir lassen Berlin hinter uns, der Kaffee schmeckt grässlich. Aber es tut gut, den lauwarmen Becher in den Händen zu halten. Papa schläft, sein Schnarchen durchbricht dann und wann das Rattern des Zuges. Er sieht so viel älter aus, wenn er schläft. Seinen 65., seinen 70., alle großen Geburtstage haben wir in Prag gefeiert, zusammen mit seinem Zwillingsbruder. Nächstes Jahr steht der 75. an, und ich will dann wieder so weit sein. Daheim in Hamburg wartet Vincent, der mich liebt und der es so verdient hat, dass ich ihm mein Prag zeige. Aber erst muss ich Abschied nehmen.



Im letzten Jahr konnte ich es noch nicht. Papa brachte die Idee auf, wir alle für ein langes Wochenende nach Prag, und als Vinny mich mit leuchtenden Augen ansah, füllten sich meine Augen mit Tränen. Da war die Stadt, einerseits, die mich so laut rief. Aber da war auch die Angst. Prag, so eng verknüpft mit Torben.



Wir nähern uns Dresden. Papa wacht auf. Er nimmt den Becher Kaffee, der längst kalt sein muss, und prostet uns zu. „Nadrazy!“, sagt er, so, wie er es zur Freude meines Bruders und mir, als wir klein waren, schon immer gesagt hat. Wir wissen, dass es richtig „Nazdraví“ heißen muss. Aber Kinder amüsiert es eben schon, wenn man anstelle von Prost einfach Bahnhof sagt. Schönes kleines Glück.



Wie sehr ich es bedaure, die Sprache nicht zu sprechen. Mama hatte sich damals gegen eine zweisprachige Erziehung ausgesprochen – wahrscheinlich wäre es auch schwierig geworden, so viel wie Papa immer gearbeitet hat. So umfasst mein Vokabular ausschließlich Blödsinn. Ich bin satt, Vorsicht Zug, kleiner Hundehaufen, großer Hundehaufen. Und wenn wir mit Bier  - pivo - anstoßen, sagen wir stets „ta mi bere!“. Was heißt das, Papa? – „Sie nimmt mich.“ – „Wer, – sie?“ – „mmhhhh, sie, also, die Bier.“ Schelmisches Grinsen. Soso. Die Bier.



Bad Schandau ist die letzte deutsche Haltestelle. Personalwechsel. „Mächte jämand Kaffää oder Tää?“. Nein, lieber Wasser. Mein Magen wird flau, alles in mir ist so unruhig. Eine so große Sehnsucht nach dieser Stadt. Und gleichzeitig die Schwermut des Abschieds. Wäre es ein anderes Land gewesen, das Torben und ich so regelmäßig bereisten, ich glaube, ich hätte es unberührt gelassen. Hätte es zu einem Ort der Vergangenheit erklärt und mir mit Vinny eine neue Welt erobert. Aber egal wie bescheiden meine Sprachkenntnisse auch sein mögen – meine tschechischen Wurzeln spüre ich deutlich. Ich schmelze dahin, wenn ältere Männer mit stark tschechischem Akzent deutsch sprechen. Ich trinke Slivovitz mit Stolz, obwohl ich ihn gar nicht vertrage. „Bin schließlich eine halbe Tschechin!“, sage ich dann, und bei Männern macht das immer Eindruck. Kein Weihnachten ohne „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ oder Zauberer Rumburak.



„Decin hl.n.“ steht auf dem Schild des kleinen verlassenen Bahnhofs. Die Landschaft wundervoll verschlafen. Papa erzählt etwas von früher, es ist die traurig-schöne Geschichte über den elektrischen Rasierapparat der Firma braun, der seit einigen Jahrzehnten auf dem Grund der Moldau verwittert. Papa wird uns die Stelle zeigen, an der seine verflossene Liebschaft den Rasierer voller Wut ins Wasser warf. Ich sehe Franzi die Vorfreude an. Und auch ich beginne, mich zu freuen.



Die Bremsen quietschen. Praha-Holesovice. Wir schieben die Koffer durch den engen Gang, warten darauf, dass sich die Türen öffnen. Endlich frische Luft, nach sieben Stunden muffiger Bahnfahrt. Vorsichtige Sonnenstrahlen. Durchatmen. Und fallen lassen. Ta mi bere – sie nimmt mich, diese wunderschöne Stadt, nimmt mich in ihre weit ausgebreiteten Arme.

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