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Ich und die Andere

Text: fuckartletsdance

Die Stadt in der ich zu Hause bin rühmt sich gerne mit seiner hohen Lebensqualität, der idyllischen Lage am großen Fluss, einer großen Universität, vielen Grünflächen, Gründerzeithäuser, der berühmte Komponist als Stadtpate. Auch ich lebe gerne hier. Ich und die Anderen. Die Anderen, die ich kaum noch wahrnehme, die wegen denen man sich im Bus doch nochmal umsetzt, die, die um halb elf schon das erste Bier am Hals haben, die, die immer noch weitere 50 Cent für eine Zugfahrkarte brauchen, die mit denen sich keiner rühmt.



Ich bin nicht mehr bestürzt, wenn fast wöchentlich ein Krankenwagen neben meiner Bushaltestelle hält und zwei Sanitäter mit abgeklärtem und irgendwie routiniertem Blick in Richtung U-Bahn hasten um wieder mal einem Betrunkenen oder Drogensüchtigen das Leben zu retten. Ich wundere mich auch nicht mehr über das Schwarzlicht auf den öffentlichen Toiletten unter dem man, wie man mir erklärte, seine Venen nicht finden kann. Kleine Deals werden dort trotzdem gerne abgewickelt. Es ist meine Stadt und ihre. Wir treffen uns selten.

                                                  





An der Bushaltestelle: Eine Frau fällt aus dem Bus, ich blicke erst auf, als sie fluchend gegen die Plastikhülle des Fahrplans schlägt. Ihre zotteligen Haare hängen über ihrer schmutzigen, roten Weste, die löchrige Hose trägt sie auf einer Höhe die sich sonst nur 13-Jährige zutrauen die ihre erste Baggy Pant ausprobieren. Die Socken in den blauen Plastikschuhen müssen komplett durchweicht sein. Während in meiner Einkaufstasche Äpfel aus biologischem Anbau, Joghurt, Käse und Brötchen liegen und mir in diesem Moment fast ein schlechtes Gewissen machen zieht sie eine Flasche Orangenlimonade aus ihrem Beutel und nimmt einen großen Schluck. Ihre gelbe Plastiktüte schwenkend geht sie vorüber und ich hoffe, dass sie weiter geht. Sie setzt sich neben mich. Ich rücke zur Seite und hoffe gleichzeitig, dass mein Bus bald kommt, mich die Frau nicht nach Geld fragt oder mich demoliert wie den Fahrplan. Ich gucke angestrengt zur Seite als sie, mit sich selber sprechend ihr Handy fallen lässt und ihren Hosentaschen kramt. Immer wieder flucht sie weswegen auch etwas an mich gerichtetes, das sich wie „... die Fresse“ anhört mich nicht dazu bewegen kann Blickkontakt mit ihr aufzunehmen. Ich gehe die Möglichkeiten durch: Im besten Fall wird sie mich fragen ob ich nicht einen Euro übrig habe, ich werde verneinen, sie würde davon wahrscheinlich ohnehin nur den billigen Schnaps aus dem Discounter 200 Meter weiter kaufen. Im schlimmsten Fall wird sie mich anpöbeln. Erst als sie direkt vor mir steht sehe ich mich dazu gezwungen Kommunikationsbereitschaft zu signalisieren. Sie beugt sich zu mir herunter „Habe ich ganz vergessen“ nuschelt sie und ich bilde mir ein eine Art Schuldbewusstsein in ihrer Stimme zu hören „Frohes neues Jahr!“. Verblüfft antworte ich „Danke, Ihnen auch!“ und bevor ich noch zu etwas weiterem fähig bin sehe ich wie sie sich umdreht, ihre Tasche nimmt und geht, wie sie schwankt und fast auf die Straße fällt. Ich muss kurz über unser Gespräch lachen. In Schieflage humpelt sie an den Autos vorbei die für sie anhalten müssen auf die andere Straßenseite. Mit ausgestreckten Armen misst sie den Abstand zwischen sich und der nächsten Laterne aus, tastet sich vorwärts bis sie Halt am Laternenpfahl findet. Ich sehe die Menschen um sie herum ein Stück zurückweichen, ich weiß ja was sie denken. Plötzlich schäme ich mich dafür so schlecht über sie gedacht zu haben. Ich wünschte ich hätte ihr zumindest mein Wechselgeld gegeben und dass dieses Geld ausreichen würde um sie zu retten. Ich wünschte das wäre nicht aussichtslos.



Durch eine kleine Geste ist sie aus dem Kreis der Anderen ausgetreten, ist nicht mehr einfach nur eine von denen. Kurz bin ich froh, dass nicht wirklich Winter ist, das nicht auch noch Schnee liegt der ihre Plastiksandalen aufweicht, das keine Minusgrade sie erfrieren lassen. Ich frage mich was ihre Geschichte ist die keinen mehr interessiert, aus welchen Gründen man sich im Januar betrunken und beinahe sommerlich bekleidet durch die Stadt treibt. Ich denke an die vielen kleinen Grüppchen von Obdachlosen, Drogensüchtigen und Alkoholikern die sich am Bahnhof treffen, sich ihre Geschichten erzählen, einander ihr Leid klagen, trinken und betteln. Was wenn ich wirklich alle ihre Geschichten kennen würde, wenn ich nicht einfach jedes mal weitergehen würde, an einem guten Tag mein Wechselgeld in eine Hand fallen ließe. Plötzlich kommt mir meine Ignoranz wie ein Selbstschutz vor. Ich weiß nicht ob ich all ihre Geschichten ertragen könnte. Niemand rühmt sich mit ihnen. Ich wünsche Ihnen auch ein Frohes neues Jahr denke ich noch bevor ich weitergehe, hoffentlich ein besseres als das letzte.

 

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