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Motte

Text: DaleNixon
Es ist dunkel, ich bin müde und sitze auf der Matratzenkante. Der Laptop ist noch an und eine von diesen kleinen Motten fliegt verirrt vorm Bildschirm hin und her. Ich nehme Motten bewusster wahr, seitdem ich eine Kurzgeschichte über sie gelesen habe. Vielleicht kommt mir deshalb der Gedanke.

Ein paar Sekunden gucke ich und belächle ihr planloses Geflatter, aber mein Verstand ist schon weiter. Ich bin die Motte.



Wie fange ich das Gespräch mit ihr an? Zum Glück ist sie äußerst kommunikativ und hat inetwa die gleiche Einstellung wie ich. Sie habe sowieso nichts groß zu tun, sagt sie. Für die Idee mit dem Tausch für eine Nacht ist sie offen. Also ist sie ich und ich bin sie, bis mein Wecker klingelt. Ich flattere noch ein bisschen vor dem Bildschirm auf und ab, aber dann verschwindet das Licht und die restlichen Lichtquellen sind zu schwach. Etwa eine halbe Stunde sitze ich an der Wand und beobachte den Raum aus der Höhe. Wir sind zu viert – die beiden Mücken sind scheinbar mehr mit sich selbst als mit dem sich alle paar Minuten hin und her drehenden Körper in meinem Bett beschäftigt, der versucht, sich mit gelegentlichem Schlagen und der Decke vor ihnen zu schützen. Schlagen Motten und Mücken sich in echt auch gegenseitig oder sind das die menschlichen Reflexe? Es ist fantastisch, einfach an Wänden sitzen zu können. Und überhaupt fühle ich mich viel leichter. Ich kann mich jetzt orientieren. Der Apfel auf der Kommode liegt schon seit Wochen da, die Sachen auf dem Kleiderschrank noch länger. Der Papierstapel auf dem Schreibtisch wird größer und breiter, aber nie weggeräumt. Wieviel Fläche des Zimmers mit Taschen und unnötigen Möbeln zugestellt ist... Das Innere des Kleiderschranks zieht mich an und ich krabble ein bisschen über T-Shirts und Hosen. Danach kommt der Sessel dran, die Plastiktüten mit Kleidung, die offene Reisetasche. Durch die Fensterscheiben kommt Licht aus den Nachbarzimmern, die ich auch erkunden will. Von Stunde zu Stunde entwickelt sich der unbändige Wille, dorthin zu wollen, wo das Licht her kommt. Ich versuche, durch die Scheiben zu fliegen, indem ich mit aller Kraft so lange es geht gegen sie an fliege – erfolglos. Die Mücken gehen mir auf die Nerven. Mittlerweile ist auch die Glühbirne in der Deckenlampe kalt. Dann spüre ich einen Luftzug und folge ihm zur Tür. Irgendetwas zieht mich richtung Küche. Ob ich wusste, dass es die Küche war, oder ob es nur ein tierischer Instinkt war, weiß ich nicht mehr. Es dauert ein bisschen, bis ich eine Stelle im Türschlitz finde, durch die ich passe. Auch aus der Küche kommt Helligkeit, und es scheint mir nichts erstrebenswerter, als zum Licht zu kommen. Auf der anderen Seite der Tür breite ich die Flügel aus und bin bereit, mich mit den kleinen Beinen vom weißen Lack der Tür abzustoßen. Darin habe ich mittlerweile Übung. Die ganze Nacht hatte ich nach dem Licht gesucht und versucht, dem Geruch und der Wärme zu folgen, und jetzt war ich endlich frei.



Der Wecker klingelt und hört auf, nachdem ich ihn durch automatisierte Handgriffe ausgeschaltet habe. Nach dem Duschen finde ich eine tote Motte im ablaufenden Wasser auf dem Wannenboden. Die sehen alle gleich aus. Aus irgendeinem Grund tut sie mir leid.

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