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Jetzt schon September

Text: irrgaertnerin
Aber wenigstens zum Sehen und Gesehen werden ist es ganz gut hier zu sein, sagt Chris dann noch, da stehen wir schon zwei Stunden vor dem Eingang des Lokals und trinken immer noch nur Club Mate, den keinen von uns wollte, den wir aber trotzdem trinken, weil wir beide ein wenig Angst vor dem Kellner haben. Dinge über die wir uns bereits unterhalten haben: den Preis von Stradivadi-Geigen, ein Burger Restaurant im 2. Bezirk, die beste und gleichzeitig schlechteste Band der Stadt.
Gegenüber von uns stehen zwei Männer mit Locken und ernsten Gesichtern, ich bilde mir ein, der eine hat sich erst vor kurzem von seiner Freundin getrennt und ich bilde mir auch ein, der unsäglich unsexy Haifischzahn umd en Hals des anderen hat schwerwiegende sentimentale Gründe und deswegen wäre es schon in Ordnung, dass er diesen trägt und ich überlege kurz, ob ich es darauf anlegen soll, einen der beiden heute noch zu küssen, aber verwerfe den Gedanken ob meiner Müdigkeit dann wieder, starre stattdessen kurz gen Himmel und beschließe, das nächste Mal auf meinen Makava Eistee zu bestehen, auch wenn mich der Kellner womöglich anschreien wird, was er bestimmt nicht machen würde, aber in meiner Vorstellung die unausweichliche Reaktion auf alle Wiedersprüche ist, die man ihm entgegenbringt.
Ich frage mich dann: was ist denn nur aus mir geworden, dass ich mir mittlerweile erfolgreich einrede, dass Kellner eine persönlich begründete Abneigung gegen mich haben, wo doch realistisch gesehen der Kellner sich bereits schon nicht mehr an mich erinnert. Ich frage mich auch, warum das gar nicht schlimm war, gestern E. zu treffen, mit dem ich noch vor vier Wochen mein Bett teilte, nachdem er meine Wohnung selber aufsperrte, mit dem Schlüssel, den ich ihm Stunden zuvor gegeben hatte. Ein letzter großer Beweis meines Vertrauens, das es schon lange nicht mehr gab. Eine Illusion, die ich mir selber vorstellte und der ich mich hingab, während ich im Bett lag und auf ihn wartete und alle fünf Minuten darüber nachdachte, ob es jetzt schon vier oder gar acht SMS waren, die er meiner Vorgängerin in der Zwischenzeit gesendet hatte. Nur eine Woche später saß ich dann, bereits gewöhnt an die Einsamkeit, in meinem neuen Wohnzimmer und schrieb eine Email an diese Person, die ich nie treffen werde und darüber sehr froh bin und fühlte mich zur selben Zeit unfassbar erwachsen und so kindisch wie schon seit langem nicht mehr.

Dazwischen waren Tage gewesen, an denen ich weinte und in Stiegenhäusern rumschrie, sowie aus Hoffenstern, mich in meiner Vorstellung ein wenig aufführte wie eine neapolitanische Ehefrau und mit dem Zuschmeissen des Fenster sogleich 78% aller italienischen Wörter vergaß, die ich in mühsamer Arbeit mir in den letzten Monaten angeeignet hatte. Der einzige Satz, dem ich im Moment noch fähig bin, in dieser Sprache, für die ich noch vor weniger als einem Jahr überhaupt keine Liebe übrig hatte, zu sagen ist: Sono stanca. Und genau diesen Satz sage ich dann auch zu Chris, wiederum in einer anderen Sprache und verabschiede mich in dieser schrecklich umständlichen Art und Weise, von der ich mir einbilde, sie mir erst diesen Sommer angeeignet zu haben.

In der Ubahn dann der Lockenmann mit dem Haifischzahn, der sich auch noch neben mich setzt. Sein Fuß nur 5cm von meinem entfernt. 5 cm und eine ganze Welt. Ich steige vor ihm aus, ich gehe langsam die Treppen hinauf, die anderen Treppen hinunter, vorbei an dem Haus, in dem ich einmal einen Mann kannte, der noch immer ein Buch von mir in einem Regal liegen hat. Vorbei an einer Straße, von der ich sage, es sei die schönste der Stadt. Hinein in ein Haus, in dem ich bereits seit einem Monat lebe und schlussendlich in diese Wohnung, in der die Einsamkeit nicht mehr wohnt, sondern nur noch ich.

Am nächsten Morgen versuche ich mich zu erinnern, ob die Locken blond oder braun waren. Es gelingt mir nicht. Stattdessen ist mein Kopf voll mit dem Traum der letzten Stunden, in dem mein Telefon läutete und ich es aus dem Fenster warf, das grüne Scheiben hatte und auf eine Straße ging, in der zwei Autos fuhren, beide gelb. 

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