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Herfinden, ankommen, weglaufen, wiederfinden

Text: jungfrauMaria
Die Tasche gepackt mit der üblichen Sekundärliteratur und einem Oberteil zum Ausgehen steht sie am Bahnhof und wartet mit einem Haufen anderer Studenten auf den Zug. Die Kippe in der einen Hand und in der anderen den Kaffee mit der Sojamilch steht sie im abgetrennten Raucherbereich. Eben hat sie sich noch die Titanic gekauft, obwohl sie viel lieber zu dem neuen Rankin gegriffen hätte. Aber der war teuer und Geld wird nach dem noch bevorstehenden Wochenende ganz schön knapp werden. Die Heimatstadt ist kostspielig, trotz Essen bei Mama. Außerdem macht sich die Titanic besser.
Sie trinkt den Kaffee leer und wirft die Kippe weg. Der Zug ist da. Sie steigt ein, setzt sich und greift zur Titanic ohne hineinzusehen. Sie sieht aus dem Fenster und denkt: "Ich will gar nicht. Hierbleiben wäre so schön leicht. Ein freies Wochenende, an dem ich mich nicht stressen müsste und trotzdem was starten könnte. Ich will nicht." Trotzdem bleibt sie im Zug sitzen. Sie kramt ihr Handy aus der Tasche und wählt eine Nummer.
"´s geht?"
"Moin. Wollt ich dich fragen. Bin aufm Weg in die Heimat."
"Jo, wir werden wohl erstmal einkaufen gehen und sind dann so ab 8 bei mir"
"Wer ist wir?"
"Wie immer halt."
"Ah ja."
"Kannst dann ja auch vorbeikommen."
"Sag nochmal deine Hausnummer. Ist ne Weile her, dass ich da war"
"Weißte nicht mehr? Ts. 42."
"Achja, das wars. 8 Uhr schaff ich nicht. Ich denke, so um 10 rum bin ich da."
"Alles klar. Kennste den Weg noch?"
"Ich hoffs. Denk schon."
"Okay, sonst rufste an, ne?"
"Sischer! Bis später!"
"Ja, dann… bis später!"

"Da ist die Freude ja mal wieder riesig" denkt sie sich. Aber sie weiß, dass sich das alles nur so uneuphorisch anhört. Die Realität sieht anders aus. Trotzdem denkt sie immer noch, sie hätte vielleicht zu Hause bleiben sollen. Vielleicht ist sie ja doch nicht so erwünscht. Außerdem gäbe es so viel zu tun, Unikrams, soziale Kontakte, die gepflegt werden wollen und auch jemanden, neben dem man ab und an mal einschlafen darf.  Trotzdem fährt sie weiter.
3 Stunden später steht sie vor dem elterlichen Haus. Sie klingelt und lässt sich freudig begrüßen. Alles wie immer. Die Familie auf den neusten Stand bringen. Das interessanteste Seminar, das ganze Engagement nebenher, man ist ja soso aktiv. Es gab viel zu tun, und ja, man ist gestresst, aber es macht ja auch Spaß und man hat etwas erreicht.
Essen, erzählen, fertig machen, losgehen. Die Mutter enttäuschen, weil man nur 2 Stunden geblieben ist und sie weiß, dass man das Wochenende über wohl nur verkatert herumliegen wird.
Sie hat auch ein schlechtes Gewissen, aber sie weiß, wenn sie dableibt und gegen 1 ins Bett fällt, fällt ihr die Decke auf den Kopf. Also los. Das Abo eingesteckt, Kippe an, ab zur Bahn.
Eine halbe Stunde später ist sie an ihrem Ziel, was auch immer Ziel bedeuten mag. Sie klingelt, es wird aufgemacht, sie steigt die Treppe hoch und da steht er auch schon. "Fett!" Da ist sie, die Euphorie. So wird sie hier nunmal ausgedrückt, kein "Schön, dass du da bist" oder Ähnliches. Nein, "Fett!" Sie lächelt, viel breiter als sie gedacht hätte, dass sie an diesem Wochenende überhaupt lächeln würde. Die Umarmung fällt trotzdem kurz und etwas kühl aus. Anders, als bei den wichtigen Menschen zu Hause. Sie legt ihre Jacke ab und geht ins Wohnzimmer, begrüßt den Rest der Bagage, dreht sich wieder zu ihm um und fragt: "Bier?" "Joa, Kühlschrank, ne?" "Hab auch was zum Nachlegen" "Alles klar"
In der Küche betrachtet sie verzweifelt den Inhalt des Kühlschranks. Becks. Na gut. Was solls.
Mit dem Bier in der Hand begibt sie sich auf Sitzplatzsuche. Sie landet auf dem Fußboden, macht das Bier mit den Zähnen auf und dreht sich ne Kippe. Und hat große Schwierigkeiten, anzukommen. Sie kennt die Insider-Witze nicht mehr und bekommt auch sonst nicht viel von den Gesprächen mit. "Wär ich mal nicht hergefahren" denkt sie und ist bei der nächsten Runde Jägermeister dabei. "mehr Alkohol" denkt sie. Vielleicht hilfts. Sie stößt mit den anderen Schnapstrinkern an und haut das Zeug weg.
"Wie geht's dir?" wird sie gefragt und sie antwortet: "gut, glaub ich. Läuft alles. Viel zu tun halt."
"Jo, du bist ziemlich aktiv gerade, ne?"
"So isses."
Viel weiter wird nicht nachgefragt. Muss auch nicht. Hier ist das halt nicht wichtig. Prioritäten verschieben sich.
Sie trinkt noch nen Kurzen mit, holt sich das nächste Bier, diesmal eins von denen, die sie selbst mitgebracht hat. Es macht "PLÖPP!" und sie muss lächeln. Sie prostet Ihm zu und trinkt. Sie hat aufzuholen, die anderen sind schon seit 2 Stunden dabei.
Sie begibt sich in ihre Dunstglocke und geht den Weg in die Disko wieder mal neben Ihm und erzählt wirklich ein bisschen. Und Er auch. Sie fragt sich, wie es wohl so verlaufen wird. In der Disko darf sie mal wieder jüngere Mädels beobachten, wie sie Ihn anschmachten und angraben, ohne dass er es wirklich mitbekommt. Sie geht zur Theke und besorgt 2 Bier, eins gibt sie Ihm. "Ich will nen Jäger" sagt sie, "mach ma klar"
Macht Er. "Brav."
Tanzen geht sie nicht. Nicht ihre Musik. Manchmal steht sie mit ihrem Bier etwas abseits und sieht den anderen beim Abgehen zu. Zwischendurch raucht sie und unterhält sich. Trifft andere Leute von früher. Nett. Nichts weltbewegendes. Um die Welt zu bewegen braucht sie Kraft, die sie hier nicht hat. Aber sie hat den Pegel erreicht, wo das nicht mehr so wichtig ist. (Außerdem ist sie nicht hier, um die Welt zu bewegen, sondern damit die Welt sie bewegt)
Trinken, reden, lachen, zwischendurch etwas langweilen und sich fragen, ob man nicht doch langsam mal zum Nachtbus… Nee, nächster Schnaps. Die Disko hat sich gelehrt und man findet sich langsam wieder. Der harte Kern hat sich herauskristallisiert. Schließlich geht sie doch noch tanzen, einmal mit allen, die noch da sind. Und hat doch noch richtig Spaß. Ohne zu denken.
Ein letztes Bier? Immer her damit.

"Noch ein Film bei mir?"
"Joa."
Los geht's.
Auf dem Weg zu IHm reden sie wirklich. Was ankotzt, was rockt. Aber vor allem, was ankotzt. Und was wehtut. Verdammt, da war ne ganze Menge, wieso war ihr das bisher nicht aufgefallen?

Einen Film gibt es erstmal nicht. Es gibt noch ein Bier und Musik. Schwer sich zu einigen, aber nicht unmöglich. Nicht hier. Und als sich seine Zimmertür hinter ihr schließt, ist sie raus. Raus aus der Stadt, in der sie wohnt, raus aus allem, was sie gemacht hat und es gibt nur noch das. Die alten Freunde, alte und neue Wunden und ein Gefühl des Zugehörigseins, was sich "Drüben" zwar manchmal auch einstellt, aber anders. Und nie ganz.
Sie ist sicher. Sicher in der Dunstglocke, sicher hier. Wenn auch  nur heute. Eigentlich ist hiersein leicht und dableiben wäre schwierig gewesen. Vielleicht.
Sie braucht lange, um ihre Bierflasche abzustellen und IHM seine aus der Hand zu nehmen. Denn eines ist nie sicher: Das es diesmal klappt. Aber versuchen muss sie es endlich wieder. Wenn nicht, kommt sie hier irgendwann nie wieder wirklich an. Vielleicht wär das besser so.Vielleicht sollte sie da leben, wo sie auch wohnt. Beides ist Leben. Irgendwie. Und trotzdem scheint es sich gegenseitig auszuschließen. Sie ist jemand anderes hier. Ein wenig.

Aber nun ist sie hier und sieht IHN an und reißt sich zusammen. Weg mit dem Bier. Sie nimmt SEIN Gesicht in beide Hände und

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