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Getrennt vom Liebsten

Text: Spassmacher

Ich habe einer Freundin ein Buch geliehen. Seitdem kann ich nicht mehr schlafen.



Es handelt sich um ein Fachbuch aus dem Verlag Vahlen. Das Buch ist über tausend Seiten dick und hat einen breiten, zweifarbigen Buchrücken.



Nun ist das Buch weg, und es klafft eine schlimme Lücke in meinem Bücherregal. Es geht mir ja gar nicht um den Inhalt, dieses langweilige Geschwätz von Kostenarten und Bilanzierungsregeln. Aber dieser Buchrücken! Diese kräftige, aufstrebende, fasrig matte Säule in zurückgenommenem Weiß, durchbrochen von einem schwermütigen tiefblauen Streifen am unteren Ende, war immer ein entscheidendes Detail im Mosaik meiner wohlkomponierten Bibliothek. Dort bildete dieser verlorene Sohn den vieldurchdachten Kontrapunkt zur gelben Bescheidenheit des Reclam-Hefts, behauptete sich neben dem eleganten Rücken der Neuauflage von „Effi Briest“ aus dem Aufbau-Verlag und leitete geschmeidig über zur stolz aufragenden Rückansicht von Ian McEwans „Abbitte“ im roten amerikanischen Einband. Der Gedanke, das Buch steht nun in einem anderen, fremden Regal und reckt dort seinen Rücken dem Bewunderer entgegen – fügt sich gar noch besser in das dortige Gesamtbild ein – bringt mich fast um.



Natürlich – als so ein leidenschaftlicher Bücherfanatiker machte ich mich auch selbst mal ans Werk. Ich investierte fast unendlich viel Zeit in meinen eigenen, den perfekten, Buchrücken. Nach Jahren der Mühsal war er endlich vollendet. Flugs schrieb ich dann noch einen Roman hinein. Und noch ein paar Jahre später fand ich den Mut, das Ergebnis an einen Verlag zu schicken. Kurze Zeit später erhielt ich Antwort mit folgender Einschätzung: „Dieser Roman ist das ultimative Panoptikum unserer Zeit. Mit einer unvergleichlich fiebrigen Intensität schaffen Sie eine Gravität, die den Leser durch ein gesellschaftliches Gesamtbild zieht, das in seiner Komplexität und Vollkommenheit bedenkenlos in einer Reihe mit Tolstois ‚Krieg und Frieden’ genannt werden kann. Hier liegen die Schultern vor, auf denen zukünftige Autoren-Generationen zu stehen sich rühmen werden. Dieser Roman ist vollkommen. Nur der Buchrücken muss überarbeitet werden.“



Nach diesem vernichtenden Urteil habe ich mein Buch zurückgezogen.



Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Ich bin kein Anhänger des Feng Shui. Ich glaube nicht an einen Energiefluss in meiner Wohnung oder irgendwelche Drachen. Aber die Harmonie in meinem Wohnzimmer ist gestört, seitdem meine Kollegin das Buch in ihrer Gewalt hat. Soviel steht fest.

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