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Wie du verschwindest

Text: irrgaertnerin
Ich erinnere mich an dich beim Schneiden von Schnittlauch, beim Hören des Wortes Kopfbahnhof, an Sonntagen die sonnig sind. Ich erinnere mich an deine großen Hände, an die Tiefe deiner Stimme und das Zucken deines rechten Auges. An den kleinen Finger mit der Narbe quer über die Fingerkuppe, an deine tänzelnde Gangart, an das graue Haar zwischen all den schwarzen, an die ständige Frage nach dem Warum, an deine weißen Beine die du ungern zeigtest, an den Geruch deiner Haut frühmorgens, an den Klingelton deines Telefons, an den Titel deines Lieblingslieds und daran, dass du niemals Karaoke gesungen hast.



Ich sehe dich am Küchentisch sitzen, auf meinem Bett, im Park auf der grünen Bank, auf dem Fensterbrett, am Beifahrersitz neben mir, in der vorletzten Reihe links außen im Kino, hinter der Bar an langweiligen Dienstagabenden, unter dem Ahorn hinten im Garten, in der Ubahn, die Beine übereinander geschlagen, mir gegenüber, mit einem Lächeln im Gesicht, das selten aufhörte.



Ich gehe alleine vorbei an den Menschen, genauso wie wir es früher gemeinsam machten. Ich grüße sie und sie grüßen manchmal zurück. Ich blicke in der Obstabteilung im Supermarkt auf den leeren Platz neben mir, ich halte ein Mango hoch, so als würde ich sie dir zeigen wollen und lege sie dann in den Korb, sobald mir bewusst wird, dass der Platz nicht nur leer wirkt, sondern auch ist. Ich blicke dann beschämt zu Boden und eile weiter zu den Milchprodukten, wo ich immer noch Emmentalerkäse kaufe und später zuhause auf das mit Butter beschmierte Brot lege, sowie du das immer gemacht hast. Ich frage mich nicht, ob ich Emmentalerkäse eigentlich mag, ich frage mich nicht, ob ich wieder aufhören sollte Butter zu essen, ich stelle nicht in Frage, ob das Brot zu dick ist oder zu dünn. Ich kaufe den Käse, ich kaufe die Butter, ich streiche das Brot, ich stehe am Fenster und für ein paar Momente ist es so, als wärst du gar nicht weg.



Manchmal steht jemand in der Ubahn, der gleich lacht wie du, der die gleiche Hose trägt, dem ich auch genau bis zur Unterlippe reiche, der ein Wort verwendet, von dem ich mir sicher bin, du hättest es an der gleichen Stelle auch gesagt. Manchmal starre ich diesen Mann an und warte, bis er es merkt und mich ansieht, damit dann das Gefühl aufhört, dass es wirklich du sein könntest, damit ich wieder weiß, dass es nur noch die Erinnerung ist, die einen anderen dir ähnlich macht, aber nicht mehr du. Nie wieder du.



Ich habe einen Pullover gefunden. Er lag hinter den meinen im Schrank. Ich konnte mich nicht erinnern, wann du ihn getragen hast und schon gar nicht, wie er dorthin gekommen ist. Ich legte ihn ausgebreitet auf den Boden und dachte dann daran, welcher deiner Pullover mir der liebste war, aber es fiel mir nicht ein und ich wurde ruhig. Ich dachte: vielleicht ist jetzt alles vorbei. Vielleicht verschwindest du endlich langsam und mit dir dieses unfähige Lächeln in meinem Gesicht, wenn andere von dir erzählen. Es weicht einer ausdruckslosen Miene, die mich an meinem Glas mit Weißwein nippen und später langsam die Schuhe anziehen und nach Hause gehen lässt.

Wenn ich dann morgens mit der immer noch gleichen Mimik vor dem Herd stehe und warte bis der Kaffee endlich kocht, dann bist du vielleicht immer noch ein wenig da, aber vielleicht ist es auch endlich normal geworden, dass alles weitergeht, auch ohne dich und dass die Erinnerungen nicht mehr viel mehr sind, als diese alten Familienfilme, bei denen die Kamera erst angemacht wurde, als alle in Reih und Glied vor dem Schlosstor standen und dann auf Kommando wild in die Kamera winkten.



Diese Familienfilme, die man sich Jahre später zu Weihnachten ansieht und dann darüber spricht, wie wenig der Rock zu der Jacke passte und wie schlank die Mutter damals noch war, aber von denen niemand mehr weiß, wie es sich anfühlte an diesem Tag, vor diesem Schloss, mit diesen Menschen, die längst nicht mehr die gleichen sind.

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