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Ihre Augen waren dunkelgrün

Text: marphine
... so grün wie die Augen meiner Schwester, als sie mal gefärbte Kontaktlinsen trug, so grün wie Golfrasen bei Regen, so grün wie die Wand in meinem Zimmer. Sie stand in der U3, hatte ihren Rucksack vor sich gestellt und die Ohren mit Kopfhörern verstopft. Eigentlich wäre sie mir nicht aufgefallen, sie sah aus wir jede beliebige Indierockelektropunkgitarrenpophörende, am Wochenende in die Großstadt fahrende um dort was zu erlebende Durchschnittsstudentin (ein Astabutton am Rucksack verriet mir gleichwertiges Bildungsniveau), aber dann warf sie den Kopf nach hinten, nur kurz, nur um ihren Pony aus dem Gesicht zu bekommen und ich sah außer diesem irrealen Grün ihrer Augen darin noch etwas anderes. Sie sahen aus wie die Augen meiner Oma, als sie auf der Beerdigung meines Opas war. Eigentlich hätte sie weinen müssen, aber der Schmerz war zu groß. Das ist das Seltsame am Weinen, es gibt zu kleinen Schmerz, über den hinweggesehen werden kann, der vergessen wird und sich irgendwann ob der Nichtbeachtung beleidigt in ein Kämmerlein verzieht. Dann gibt es den mittleren bis großen Schmerz, der einen zum Weinen bringen kann und zwar so, dass die stärksten Männer nicht mehr aufhören können, sondern wimmern und winseln, aber es nie zugeben würden. Aber der allerschlimmste Schmerz ist der, bei dem die Luft wegbleibt, der bei dem das Herz mir Nadeln gespickt wird und man sich kaum bewegen kann. Und weinen kann man auch nicht. Das geht erst später, erst, wenn man abgewartet hat, in so einer Situation kann man nur abwarten, warten, dass der Schmerz schwächer wird und irgendwann so schwach ist, dass er nicht mehr zu groß zum Weinen ist.



Jedenfalls, dieses Mädchen hatte etwas erlebt, was noch so schlimm war, dass der einzige Weg, es ihrer Umgebung mitzuteilen, ihre Augen waren. Ich stieg an der gleichen Haltestelle wie sie aus, scheiß auf die Uni, das war heute sowieso nur eine ziemlich unwichtige Vorlesung. Vielleicht könnte ich sie ansprechen, auf ungefährliche, auf keinen Fall anbandelnde Art und Weise. Es ist ziemlich eklig, aber ich höre mir gerne die Leidensgeschichten anderer Leute an, am liebsten, wenn ich ein wenig im Selbstmitleid baden könnte. Meine postpubertären Probleme wirken dann leichter und ich bin mir sehr sicher, wenn ich sage, dass ich nicht der Einzige bin, der insgeheim auf so was steht.



Außerdem mochte ich ihre Augen.

Ich rückte also meinen Rucksack zurecht und stieg aus der U-Bahn aus, sie ging zu den Rolltreppen in Richtung Bahngleise. Offenbar war die Heimreise angesagt, stellte ich fest, als sie zu einem der Ticketschalter ging, während ich in der Halle vorgab, das Plakat zum Verhalten auf den Bahnhöfen der Deutschen Bahn AG zu studieren.

Sie ging zu ihrem Gleis und ich folgte ihr immer noch, glücklicherweise von einem Strom anzugbewehrter, in ihr Headset quasselnder Banker von ihren Blicken geschützt. So philanthroph meine Verfolgung von ihr meiner Ansicht nach war, so irre könnte sie einem Außenstehenden vorkommen.

Sie stellte sich vor eine Anschlagtafel, die das Rauchen bei (so schien es) Todesstrafe verbot und vernebelte die Sicht auf das Schild mit einer blauen Dunstwolke ihrer Selbstgedrehten. Verdammt, langsam war sie nicht nur interessant, sondern auch noch sympathisch.

„Meine Damen und Herren, auf Gleis 7 fährt ein: ICE Richtung Hamm, über Berlin-Spandau, Hannover und Bielefeld“ Sie horchte auf, das schien ihr Zug zu sein, stellte den Rucksack ab und schnippte ihre Zigarette auf die Gleise. Ich drehte mich von dem Gleis weg, hielt mir die Ohren zu, das ist eines der wenigen Geräusche, die ich nicht ertrage, das Gekreische von Zugbremsen. Als ich mich wieder umdrehte, stand da der Zug, aber sie war weg. Ich hatte mich geirrt, es war nicht nur das Gequietsche der Bremsen, sondern auch die Schreie der Umstehenden, die mit schreckensweit aufgerissenen Augen auf das Gleis starrten. Um mich herum fingen Bahnbeamte an zu rennen und um Hilfe zu rufen, doch das alles war im Nebel und je schneller sie sich bewegten, desto langsamer war ich. Ich ging zu ihrem Rucksack und holte ihre Brieftasche heraus. In der Brieftasche waren eine Todesanzeige („Ich geh schon mal vor“ – H., 24 Jahre, als er starb) und ein Polaroid, mit dem ich nichts anfangen konnte. Es kam mir nur vage bekannt vor, bis mir einfiel, dass solche Polaroids noch beim Frauenarzt gemacht wurden, um den werdenden Müttern ein Bild ihres Kindes mitzugeben. Ich steckte die Sachen wieder in das Fach zurück, drehte mich um und ging. Ich musste nicht mehr wissen.

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