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Baby für immer

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Vor uns liegt: Ein Baby. Dieses Baby braucht ganz viel Aufmerksamkeit und die kriegt es auch, schließlich erzählt es uns ununterbrochen von seinen Wünschen. Klar kann das Baby auch mal für kurze Zeit die Klappe halten – wenn es zum Beispiel eine Zeichentricksendung, ein Computerspiel oder eine Comicverfilmung vorgesetzt bekommt. Von der Welt um sich herum versteht unser Baby nicht besonders viel. Und trotzdem vertraut es darauf, dass sich schon irgendjemand seiner annehmen wird. Nächstes Jahr wird dieses Baby 30 Jahre alt. Ein Babyvergleich ist leider noch die netteste Art, die mir in den Sinn kommt, wenn ich die jungen Amerikaner zwischen 20 und 30 beschreiben soll. Mit meinen 28 Jahren bin ich selbst Teil dieser Generation, die sich durch Infantilismus und einen zynischen Blick auf die Welt auszeichnet. Mag sein, dass dieser Zynismus meinen Blick auf uns selbst etwas trübt. Aber selbst ein sehr wohlmeinender Beobachter erkennt bei genauerem Hinschauen, dass die jungen Erwachsenen in Amerika unter ihren hautengen Jeans in Wahrheit noch Windeln tragen. Wir brabbeln und kommunizieren ununterbrochen – wie Babys. Der einzige Unterschied zu einem echten Kleinkind ist, dass unser Gebrabbel digital daherkommt: als SMS, in Blogs, als Tweet, auf Facebook. Wir beschäftigen uns schon unser ganzes Leben lang hingebungsvoll mit Computerspielen. Man hat uns mal „Nintendo Generation“ genannt, was ungefähr so zutreffend oder unzutreffend ist wie die Begriffe „Generation Y“ oder „Millenials“. Wir sind mit Computerspielen aufgewachsen und die Computerspiele sind mit uns groß geworden. Am Anfang war es das Höhlenmenschen-Gedaddel am Atari, heute ist es die Wii. Aber egal, wie hochentwickelt die neuesten Spiele sein mögen: Eine Wii-Konsole, eine Playstation oder eine X-Box sind doch nichts anderes als schickes Kinderspielzeug. Vielleicht sind wir die erste Generation, die es normal findet, ihre Freizeit auch im Erwachsenenalter noch mit Kinderspielzeug zu verbringen. Entsprechend kann ein Amerikaner um die Zwanzig sein Leben an Super-Mario-Spielen festmachen: „Super Mario Bros. 3 kam drei Monate nach meinem neunten Geburtstag raus – irgendwann um die Zeit herum muss dann wohl auch die Berliner Mauer gefallen sein.“ Er kann ein Essay über Grand Theft Auto schreiben, wenn er aber nach seinem Lieblingsschriftsteller gefragt wird, zuckt er nur mit den Schultern. Wenn er denn überhaupt liest, dann am ehesten Harry Potter-Bücher, weil die schließlich, sagt er, „nicht nur für Kinder gedacht sind“. Ähnlich sei es mit Cartoons: Die angeblich „irre lustige“ Serie „Family Guy“ ist kürzlich als „herausragende Comedy-Serie“ für einen Emmy nominiert worden. Vielleicht hat das Establishment in den USA, vielleicht hat Hollywood einfach kein Interesse daran, dass wir erwachsen werden. Die meisten Amerikaner meiner Generation bevorzugen statt nachdenklicher Filme über Erwachsene mit echten Problemen (Robert Downey Jr. in „The Soloist“) Comicverfilmungen (Robert Downey Jr. in „Iron Man“). Und im Kern sind auch gehypte Filme wie „Spiderman“ und „Batman“ nichts anderes als Kinderfilme. Mag zwar sein, dass Heath Ledgers „Joker“ die beste Vorstellung war, die je ein Schauspieler meiner Generation gegeben hat. Aber vor lauter Begeisterung sollte man nicht vergessen, dass man genau diesen Joker auch im Spielwarenladen kaufen kann.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sollten jetzt immer noch Zweifel daran bestehen, dass meine Generation nichts weiter ist als ein Trupp zu groß geratender Kinder, dann werfen wir doch mal einen Blick auf die erfolgreichsten Kinofilme dieses Jahres in den USA. „Transformers“ ist eine „Verfilmung“ von Action-Figuren, die in den 1980er Jahren bei uns im Kinderzimmer standen; genauso „G.I. Joe“, ein Film, der gerade auf Platz 1 der US-Kinocharts steht. Und weil Hollywood weiß, dass es sich lohnt, auf unsere Nostalgie-Drüsen zu drücken, wird es nicht lange dauern, bis wir auch „He-Man“ und „She-Ra“ dabei zusehen können, wie sie sich im Kino Gewalt antun. Meine Generation hätte sich auch ganz anders entwickeln können. Spätestens von dem Moment an, in dem wir zum ersten Mal mitbekommen haben, wie echte Gewalt aussieht. „2 000 Souls“ stand kurz nach meinem 21. Geburtstag in den Schlagzeilen zu lesen. Es war der 12. September 2001. Der Tag vorher hätte vielleicht unser Leben verändern können, aber mir kommt es manchmal so vor, als hätten wir damals die Chance verpasst, so etwas wie die richtigen Schlüsse aus den Ereignissen zu ziehen. Stattdessen nahm unser Land die Anschläge zum Anlass für einen Krieg mit einem Land, das an den Anschlägen gar nicht beteiligt war. Vielleicht geht es dabei auch um so etwas wie „Entwertung“. Auf den Begriff stoße ich immer wieder, wenn ich versuche, zum Kern der „Generation Y“ vorzudringen. Diese Entwertung lässt sich vielleicht an der technischen Entwicklung beobachten: Wir sind die letzte Generation, die mit einem Bein in der analogen Welt und mit dem anderen in der digitalen Welt steht. Wir werden mal die letzten sein, die wissen, wie es sich anfühlte, einen von Hand geschriebenen Brief zu bekommen oder in einen Plattenladen zu gehen und eine Platte, eine Kassette oder auch eine CD wirklich anzufassen. Für all diese Dinge gibt es heute einen effizienteren aber weniger authentischen Ersatz auf unseren Computern. Mir geht es aber gar nicht um meine eigenen sentimentalen Anwandlungen, wenn ich darüber schreibe, wie immer mehr Dinge in unserer Generation an Wert verlieren. Im vergangenen Jahr hat ein Psychiater an der University of California in Los Angeles die, wie ich finde, ziemlich plausible Theorie entwickelt, nach der durch die digitale Revolution die Gehirne junger Menschen regelrecht umprogrammiert wurden. Sie sind heute derart abhängig von digitaler Kommunikation, dass ihre Sozialkompetenz fast verkümmert ist. Noch schlimmer ist es bei den so genannten „Digital Natives“ (oder der „Generation Z“). Die haben nie eine Welt erlebt, in der man ohne Computer auskommen muss. Ich habe das selbst im Unterricht beobachtet, bei meinen Erstsemestern, alle 18 Jahre alt: Sie wirken manchmal, als seien sie überhaupt nicht mehr in der Lage, sich verbal auszutauschen. Unterm Tisch ganz nebenbei eine SMS zu verschicken ist für sie dagegen kein Problem. Und noch etwas anderes hat seinen Wert verloren: unsere Hochschulzeugnisse. Wir erleben gerade nach dem 11. September 2001 so etwas wie den zweiten historischen Moment unseres Lebens: Die große Rezession. War ein Abschluss an einem College einst die Garantie für ein gutes Leben, ist das Zeugnis heute nur noch ein Stück Papier, das sich gut zur Dekoration unseres Kinderzimmers eignet, wenn wir demnächst wieder bei Mama einziehen. Laut Time Magazine finden zurzeit vier von fünf College-Absolventen keinen Job. Ich habe selbst einen Master-Abschluss und trotzdem hat es für mich gerade mal zu einem Teilzeitjob an einem sogenannten Community College gereicht. Die Studenten, die ich dort unterrichte, arbeiten bei McDonald’s und gehen trotzdem mit mehr Geld nach Hause als ich. Es werden auch keine neuen Stellen frei, weil selbst die Generation unserer Eltern gerade bemerkt, dass auch ihr Lebensweg nicht mehr verläuft wie geplant. An der Uni, an der ich studierte gibt es einen Prof, den ich sehr verehre – ein alter Hippie, Neil Young-Fan, grauer Bart. Er bat mich irgendwann, sein Nachfolger zu werden und statt seiner „Creative Writing and Fiction“ zu unterrichten. Vollzeit. Dann aber rief er mich noch einmal an und sagte, dass es ihm sehr leid täte, aber ich könne seinen Job nun doch nicht haben. Er hatte gemerkt, dass er es sich unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen nicht leisten könne, in Rente zu gehen. Immerhin: Die Rezession hat uns über Generationen und Nationen hinweg zusammen gebracht. Wir leiden gemeinsam. Und es steckt schon auch eine gewisse Ironie darin, dass unsere Zeugnisse gerade kaum jemanden interessieren. Zum ersten Mal hören wir jetzt ein neues Wort. Es lautet: „Nein“. Nein, es gibt keinen Job für dich, und nein, du wirst die Erfolgsleiter nicht hinauf klettern, weil es ja nicht mal mehr eine Leiter gibt. Junge Leute bekommen in den USA von den Unternehmen momentan nur noch Kurzzeitverträge angeboten. Ohne Extras, ohne Perspektiven. So wird uns zumindest die Chance vorenthalten, irgendwann einmal ein erwachsenes Leben zu führen. Manchmal kommt mir das alles wie eine Strafe des Universums vor. Jahrelang ging es uns gut, jahrelang haben wir bekommen was wir wollten. Jetzt: Nein. 29 Jahre ist dieses Baby heute alt, von dem ich schreibe. Was mal aus ihm wird? Ich weiß es auch nicht. Vielleicht kann es sich tatsächlich an Barack Obama klammern. Seine Wahl zum Präsidenten war der dritte große Moment meiner Generation. Die zwei vorangegangenen Gelegenheiten haben wir ja höchstpersönlich versaut. 2000 durften wir zum ersten Mal wählen und ein Großteil der Schuld daran, dass der Kriegstreiber George W. Bush nicht verhindert werden konnte, trifft uns. 2004 war es ähnlich. Al Gore und John Kerry waren einfach nicht cool genug für uns. 2008 haben wir es schließlich hinbekommen: Barack hätte ohne uns nie gewonnen. Vielleicht ist das ein Zeichen, dass wir doch zu mehr fähig sind, als nur Starbucks-Kaffee zu trinken und „Ultimate Fighting“ anzuschauen. Wir haben jemanden gewählt, der einer Minderheit angehört. Das war schon sehr erwachsen – nicht nur für uns Mittzwanziger, sondern für unsere ganze Nation. Wenn Obamas wichtigstes Projekt, die große Gesundheitsreform nun auch wirklich durchkommen sollte und am Ende jeder versichert ist, dann, ja dann könnte Amerika tatsächlich irgendwann soweit sein, nicht mehr am Kindertisch sondern gemeinsam mit Europa am Tisch der Erwachsenen sitzen zu dürfen. Unser Baby krabbelt derweil ein bisschen ziellos umher. Aber wir sollten es im Auge behalten. Es könnte doch noch was aus ihm werden. ***

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Joey Goebel wurde in Kentucky geboren, wo er lebt und Schreiben lehrt. Früher tourte er mit seiner Punkband „The Mullets“ durch die USA. Seine Romane „Vincent“ und „Freaks“ wurden in vierzehn Sprachen übersetzt, eben erschien „Heartland“. Die Zeit nennt ihn einen der „originellsten jungen Schriftsteller der USA“, der gerade „nur durch sich selbst übertroffen werde“. Exklusiv für jetzt.de hat er über das junge Amerika geschrieben.

Text: joey-goebel - Foto: Pola Plunder/photocase.de; Regine Mosimann/Diogenes Verlag

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