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Kottbusser Tor: Der coole Vorhof zur Hölle

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Als ich die Treppe von der U-Bahn nach oben gehe, habe ich eine Männerbrust, die nicht ausweicht, im Gesicht und eine Beschimpfung im Rücken. Über mir donnert die Hochbahn hinweg. Es weht ein eisiger Wind am Kottbusser Tor. Gegenüber erstreckt sich das NKZ, das "Neue Kreuzberger Zentrum", das jetzt "Zentrum Kreuzberg" heißt und auch beileibe nicht mehr neu ist. Der Betonklotz aus den 70er Jahren gehört mit zum Hässlichsten, was Berlin zu bieten hat: Grau, schmutzig, in jedem Balkon eine Satellitenschüssel, manchmal auch zwei, mit Blick auf alles, was so viele an Berlin hassen: Dreck, Drogen, Armut, Lärm. Ein Sammelpunkt für alle, die anderswo nicht gerne gesehen sind. Autonome, mit grell gefärbtem Haar, türkische Männer, die in den Hauseingängen schimpfen und sich ein paar Sekunden später Küsse auf die bärtigen Wangen drücken, Frauen mit Kopftüchern, die ihre Einkaufsroller und ein paar Kinder hinter sich herziehen, und natürlich die Junkies vorm Supermarkt. Seit 30 Jahren ist die Drogenszene am Kotti daheim. Nur so offen wie jetzt wurden nie Geschäfte gemacht. Bisher hatten sich Dealer und Konsumenten im Parkhaus hinter dem Supermarkt verkrochen. Es wurde letztes Jahr geschlossen. Angeblich sind es 400 Junkies, die täglich ans Kotti kommen, vor allem Alte, die schon Jahrzehnte an der Nadel hängen. Die meisten unternehmen nicht mal den Versuch, sich zu verstecken. Einige halten das Portemonnaie offen in der Hand, Röllchen wechseln den Besitzer. "Die hier sind ganz unten", sagt ein mit Tüten beladener Mann, der sich seinen Weg aus dem Supermarkt bahnt. Manchmal kommt die Polizei und packt einen von ihnen ins Auto, lässt ihn aber ein paar Stunden später wieder frei. "Ich hab noch nie gesehen, dass es eine Razzia gab", sagt Lisa, 28. Vor ein paar Monaten hat sie zusammen mit zwei anderen Künstlerinnen ein Atelier auf der Galerie des NKZ eröffnet. An den Wänden hängen Schwarz-weiß-Bilder, auf dem Tisch steht ein Topf Spaghetti mit Tomatensoße. Lisa mag das Kotti. Die zentrale Lage. Dass die Leute nicht so "schischi" sind wie in Prenzlauer Berg. Sie mag die türkischen Gemüse- und Dönerläden. Das "Möbel Olfe" unten im Haus, ein zur Bar umfunktioniertes Möbelhaus, mit von der Decke hängenden Sesseln, einem Skelett über der Bar und bezahlbaren Drinks. Vor allem aber mag Lisa die bunte Mischung der Bewohner: "Ich brauch' das nicht: vor die Tür gehen und mich selber treffen." Ob sie nicht manchmal Angst habe? Lisa schüttelt ihren schwarz-blond gesträhnten Kopf. "Die machen ihr Ding und ich meins. Man ist damit nicht wirklich konfrontiert, es sei denn, es fällt mal einer in der U-Bahn um. Es rammt einem keiner eine Nadel ins Bein." Wie Lisa gibt es immer mehr junge Leute, die das Kotti für sich entdecken. Weil die Mieten niedrig sind. Weil die Gegend wie jedes runtergekommene Fleckchen in Berlin früher oder später zum Sammelpunkt für Künstler und Musiker wird, die ein paar Jahre ungestört vor sich hin kreativen, bevor die Gegend so hip ist, dass sie es sich nicht mehr leisten können und weiterziehen. "Gefährlich ist hier gar nix. Nur eklig", sagt Anja, 26, und stützt ihr Kinn auf dem Flaschenhals ihres Biers auf. Sie sitzt oft im "Monarch", einer Bar mit Blick auf das Hochviadukt. Sie erzählt von Freundinnen, die die Haltestelle meiden, um ihren Kindern den Anblick der Junkies zu ersparen. Sie hat dafür kein Verständnis. "Sollen sie doch in der Provinz bleiben, wenn ihnen das zu viel Realität ist. Das ist halt 'ne Großstadt.".

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Anhänger einer Bürgerinitiative wollen sich damit nicht anfreunden. "Für ein freundliches Kreuzberg. Drogen weg vom Kottbusser Tor!", prangt es in großen Buchstaben auf ihren Plakaten, als sie am nächsten Morgen demonstrieren. "Wir haben die Schnauze voll von Spritzen in den Hauseingängen", sagt Ismail, ein Türke im Anzug mit dicken, buschigen Brauen. "Meine Tochter ist neulich vom Spielplatz nach Hause gekommen und hat gesagt, sie hätte nicht auf die Rutsche gekonnt, da lag einer und war high. Die müssen weg." Der Ton wird schärfer, vor allem wenn es um die 4 000 Kinder geht, die rund ums Kottbusser Tor leben. Manche Väter dächten schon darüber nach, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, sagt ein paar Straßen weiter Ayse, ein Mädchen mit Röhrenjeans und silbernen Kreolen. Sie hält einen Flyer von der Demo in der Hand. "Jeder hat ein Recht auf ein Leben in Würde. Das gilt aber nicht nur für Drogenkonsumenten und Alkoholiker, sondern für alle", steht da. Sie selbst unterstützt die Bürgerinitiative nicht. "Zu aggressiv", sagt sie. Aber Verständnis für den Ärger hat sie schon. Ayse bringt mich zurück zum NKZ, in die Gänge, die kaum noch ein Bewohner freiwillig betritt. Auf der Treppe hängen drei Männer, als hätte man sie darüber ausgekippt. Auf den Stufen: fleckig rote Taschentücher, Orangenschalen, Spritzen, Hundedreck. Die Männer nehmen Ayse gar nicht wahr. Erst als deren Handy klingelt, lupft einer seinen Kopf und zieht die Hand hervor. Seine Finger sind blutverschmiert. Er sieht durch mich hindurch.

Text: sarah-stricker - Foto: ddp

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