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Geschichten aus dem Offline-Land

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Viktoria sperrt die Tür zu ihrer Wohnung auf, durchquert den schmalen Flur und geht ins Wohnzimmer, die schwarzen Converse-Schuhe lässt sie an. Sie setzt sich an den Holztisch, klappt ihr weißes Notebook auf, schaltet es ein, und erst jetzt, als auf dem Bildschirm das Browserfenster aufpoppt und die Verbindung zum Internet steht – erst jetzt ist sie wirklich zu Hause angekommen. „Es war einmal ein Mädchen, das lebte im Internet.“ Viktoria sagt diesen Satz am Anfang eines einminütigen Videoclips, den sie vor zwei Wochen gefilmt hat. Er ist eines der knapp siebzig Filmchen, die Amerikanistik-Studentin Viktoria in den vergangenen eineinhalb Jahren gedreht, geschnitten und auf YouTube geladen hat. Die Clips sind Viktorias Tagebuch, ein Tagebuch in Videoform, ein so genanntes Vlog. Im Internet nennt sich Viktoria „SpeedyConKiwi“; unter diesem Pseudonym ist die 23-jährige Deutschlands berühmteste Vloggerin: 2,6 Millionen Mal wurde Viktorias Vlog angesehen, häufiger als „Die wilden Kerle 4“, der erfolgreichste deutsche Kinofilm im vergangenen Jahr. Die Clips ziehen so viele Zuschauer an, dass der YouTube-Betreiber Google sie seit ein paar Wochen für jeden Klick bezahlt. Das Vlog folgt keinem festen Schema, mal erzählt Viktoria am Schreibtisch selbstironisch von ihrem Alltag, mal schnippelt sie selbst inszenierte Dialoge zu einem zweiminütigen Sketch zusammen. Sie filmt sich beim Waldspaziergang, sie gibt Deutschunterricht für Anfänger oder dreht eine Folge auf dem Kirchturm des Alten Peters. Viktoria gehört zur ersten Generation, die dieses Konzept wirklich umsetzt. Jeder Vlogger produziert seine eigene Sendung: Der eine macht Stand-Up-Comedy, der nächste Polit-Talk, der dritte belangloses Dampfplaudern. Erlaubt ist alles; erfolgreich ist aber nur, was authentisch wirkt und unterhält. „Und sogar zwei Minuten über das Wetter können spannend sein“, sagt Viktoria. „Solange sie witzig vorgetragen und gut geschnitten sind.“ Viktoria gehört zur Speerspitze einer Generation, für die nicht mehr das Fernsehen, sondern das Internet Hauptmedium für bewegte Bildern ist: Sie ist täglich vier, fünf Stunden online. Seit eineinhalb Jahren hat sie den Fernseher nicht mehr eingeschaltet. „Warum auch? Auf YouTube kann ich eine Sendung gleich kommentieren oder mit einem eigenen Clip darauf antworten.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sie nimmt einen Schluck Kaffee aus der Tasse mit der Aufschrift „Girl Power“ und klickt auf ihre Abonnenten: 7 103 Menschen wollen automatisch informiert werden, wenn Viktoria ein neues Video hochgeladen hat. „Total pervers, diese Zahlen“, sagt sie und erinnert sich, wie alles angefangen hat: Sie war krank und vertrieb sich mit YouTube-Clips die Zeit, als sie eine neue Welt entdeckte. Sie stieß auf einen Kosmos, in dem sich normale Menschen selbst filmten und über Kontinente hinweg per Videobotschaft kommunizierten. „In dem Moment hat es angefangen zu kribbeln“, sagt Viktoria. Einen Tag später stellte sie ihre Kamera auf die Kommode neben den Spiegel und erzählte, während sie sich schminkte, dass das hier gerade ihr erstes Video sei. Wenn Viktoria diesen ersten Clip zeigen will, muss sie eine Weile suchen. Sie hat das Video schon vor einem Jahr wieder aus dem Netz genommen, so peinlich findet sie es inzwischen. „Schlechte Beleuchtung, furchtbarer Kamerawinkel“, sagt sie. „Und mein gebrochenes Englisch ist das Schlimmste.“ Auf eine seltsame Art cool Viktoria studiert Amerikanistik, in ihren Clips spricht sie fast immer Englisch. Mit zwei Klicks ruft sie eine Weltkarte auf den Bildschirm, die verzeichnet, von wo ihr Vlog besonders oft gesehen wird: 98 Prozent ihrer Zuschauer kommen aus Nordamerika. Dort ist Vloggen seit Jahren eine weit verbreitete Kommunikationsform. US-Vlogger wie „Hot4Words“, die mit russischem Akzent Fremdwörter erklärt, oder „sxephil“, der sarkastisch das Weltgeschehen kommentiert, verdienen mit ihren Clips mehrere tausend Dollar pro Monat und werden zu Talkshows eingeladen. Im Vergleich dazu ist die deutsche Szene ein Grüppchen von etwa hundert Vloggern. Viktoria möchte ihren Nachnamen trotzdem nicht in der Zeitung lesen. Sie kennt Vlogger, die Fans abwimmeln müssen und nachts ihr Telefon ausstecken. Neulich wurde sie auch außerhalb von YouTube erkannt. Sie loggte sich unter ihrem Nickname in einen Chatroom ein, um mit Freunden aus Island und Kanada „rumzuhängen“, als ein fremder User plötzlich fragte: „OMG, bist du wirklich SpeedyConKiwi?“, und der Chatroom sie daraufhin mit Fragen zu ihrem nächsten Clip bombardierte. „Cool war das schon“, sagt sie und zögert. „Aber auf eine seltsame Art cool.“ Viktoria öffnet ein Notizbuch. Sie hat es immer dabei, um sich Ideen für neue Clips zu notieren. Meist krakelt sie nur Stichpunkte, aber manchmal zeichnet sie auch Storyboards mit Kamerawinkel und Sekundenangabe. Die Ideen kommen ihr oft im Zug, auf dem Weg zu ihrem Vater, der noch nie im Internet war, und dem sie erst vor ein paar Wochen erklärt hat, wie diese Website funktioniert, mit der sie jetzt Geld verdient. Im Haus ihres Vaters gibt es kein Internet, aber eine Folge ihres Vlogs hat sie dort gefilmt. Sie heißt: „Geschichten aus dem Offline-Land.“

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