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In ihrer Not ruft die Musikindustrie nach dem Staat: Der Jurist Prof. Hoeren über geistiges Eigentum in der digitalen Welt

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Was haben Sie gedacht, als Sie den offenen Brief an die Bundeskanzlerin gelesen haben? Ich habe mich zunächst mal gefragt: Von wem kommt dieser Brief eigentlich? Die entscheidende Information stand nämlich ganz klein am Ende des Textes: der Verweis auf den Bundesverband Musikindustrie.

Unterschrieben war der Brief aber auch von zahlreichen Künstlern. Das stimmt. Aber genau darum geht es mir, um den Unterschied zwischen den Kreativen einerseits und den Verwertern andererseits. Gerade die Musikindustrie ist dafür bekannt, dass sie durch so genannte Rechte-Buy-Out-Verträge den Künstlern sämtliche Rechte wegnimmt und auf sich übertragen lässt. Deshalb hat die Musikindustrie, unter dem Vorwand sich für die Künstler einzusetzen, nur ihren eigenen Vorteil im Sinn. Das nannte ein Kollege von mir – der frühere Chef des Max-Planck-Instituts – mal den Wandel des Urheberrechts zu einem reinen Wirtschaftsrechts der Verwerter. Es geht also in Wahrheit gar nicht um Herbert Grönemeyer und Tokio Hotel und deren gefährdete Kreativität? Die Künstler haben ihre Rechte doch schon längst abgegeben. Das heißt die Verwerter nutzen nur die abgetretenen Rechte. Deshalb habe ich auch den sehr plakativen Begriff des Haussklaven verwendet. Die tarnen sich also als Kreative, das ist unseriös – auch für eine offene Diskussion, die in dem Brief ja gefordert wird. Warum geschieht das? Die Musikindustrie hat ein vielfältiges Imageproblem. Deshalb ist es in der öffentlichen Diskussion leichter, jemanden wie Tokio Hotel vorauszuschicken. Eine Forderung an die Kanzlerin lautet, Deutschland solle sich Länder wie Frankreich oder England zum Vorbild nehmen. Steht es im internationalen Vergleich so schlecht um das Urheberrecht in Deutschland? Wir sind in Deutschland sehr strikt, was diese Sachen angeht. Wir haben ein sehr scharfes Schutzsystem. Wenn man das zum Beispiel mit den USA vergleicht, sozusagen dem Mutterland der Musikindustrie, dann muss man sagen: Bei uns gibt es viel mehr Sanktionsmöglichkeiten. Und wir haben auch schon eine ganze Reihe von Schutzinstrumenten aufgebaut, um die Interessen der Musikindustrie in das Urheberrecht zu transportieren. Da sind wir in Deutschland schon fast Pionier weltweit.

Prof. Dr. Thomas Hoeren, Foto: beck.de Warum gibt es trotzdem solche Forderungen? Die Musikindustrie hat sich in der eigenen Hilflosigkeit gedacht, es gebe nur diesen einen Weg: den über Sanktionen. Gibt es denn auch andere? Wenn man Menschen erziehen möchte. Und wir reden hier nicht über irgendwelche Menschen, sondern über die potenziellen Kunden der Musikindustrie. Wenn man diese potenziellen Kunden also auf seine Seite ziehen will, muss man einen Dialog suchen. Man muss zum Beispiel in die Schulen gehen. Ich habe schon vor Jahren angemahnt, dass es kein Unterrichtsmaterial zum Urheberrecht gibt. Stattdessen geht die Musikindustrie mit Abmahnungen gegen die potenziellen Kunden vor. Und genau so ist der Brief konzipiert: Da steht ja nur der Ruf nach Sanktionen drin. Auf der nächsten Seite: Prof. Hoeren über die Forderung nach einer digitalen Straßenverkehrsordnung und nach einer Sperrung für Filesharer.


In einem Interview fordert Dieter Gorny, der Chef des Bundesverbands Musikindustrie, für die Benutzung des Internets eine Art Straßenverkehrsordnung. Nutzer, die sich falsch verhalten, sollen wie Autofahrer Punkte in Flensburg bekommen. Und bei Wiederholung soll man ihnen auch das Internet sperren. Was halten Sie davon? Das ist absurd. Man merkt an solchen Phantasien: Denen fällt nichts mehr ein. In ihrer Not ruft die Musikindustrie nach dem Staat. Auch die Telekommunikations-Industrie, also die Provider wie Alice oder Arcor, soll sanktioniert werden. Und dabei wird mit Zahlen argumentiert, die niemand verifiziert hat und die auch nicht stimmen können. Die behaupten, dass 70 Prozent des gesamten Internet-Verkehrs durch Musik-Tauschbörsen zustande kommen. Das sind fiktive Zahlen und da muss man auch mal die Telekommunikations-Industrie in Schutz nehmen. Es gibt genügend Studien, die belegen, dass der Ruf nach Sperrung nicht taugt. Das geht technisch nicht und ist auch wirtschaftlich nicht effizient machbar, weil Hacker sofort einen Weg finden, um eine Sperrung zu umgehen. Aber was könnte dann eine Lösung sein? Da muss man langfristig denken. Und das fällt einer Industrie, die kurzfristig ihre schwindenden Zahlen sieht, natürlich schwer. Man muss langfristig dahin kommen, das erodierende Urheberrechtsbewusstsein in der Bevölkerung wieder aufzubauen. Es geht nicht darum, dass ihr ans Urheberrecht denken müsst, weil ihr sonst bestraft werdet. Sondern: ihr müsst ans Urheberrecht denken, weil es euch selbst betrifft. Das setzt aber voraus, dass sich die Vergütungsstrukturen der Musikindustrie ändern. Man hat ja manchmal das Gefühl, dass von den 19 Euro für eine CD 18.99 Euro für den Konzern sind und der Künstler gar nichts kriegt. Die Leute sind doch bereit den Künstler was zu zahlen, aber eben nicht den Großkonzernen, die so ein schlechtes Image haben.

Mehr zum Thema digitale Musik und geistiges Eigentum im Internet gibt es im Themenschwerpunkt Urheberrecht auf jetzt.de

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