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Mit dem Outing erwachsen geworden

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An ihrem 15. Geburtstag wuchs Sylvie ein Stück über sich hinaus. Wochenlang hatte sie sich vorbereitet auf diesen Moment, den sie schon oft verschoben hatte, weil immer etwas nicht passte. Wenn nicht an ihrem Geburtstag, so dachte sie, wann sonst sollte sie sich dann outen? Nach dem Abendessen, beim Geschirrabtrocknen in der Küche, passierte es dann: „Mama, ich bin lesbisch“, sagte Sylvie. Heute, vier Jahre später, kandidiert Sylvie Engl, 19, auf der Rosa Liste für den Münchner Stadtrat. Sie steht hinter einer großen Holztheke im schwul-lesbischen Jugendzentrum „Diversity“ und erzählt von ihrem Outing in der Schule, das nicht so ganz freiwillig abgelaufen ist. Sylvie war gerade 14 und hatte sich in ihre beste Freundin und Banknachbarin verliebt. Auf einem Spaziergang gestand Sylvie dann ihre Liebe – ein Geständnis, das die Freundin nicht lange für sich behielt. Das Gerücht um Sylvies sexuelle Neigung machte die Runde in der Schulklasse. Zwischen zwei Unterrichtsstunden trat eine Mitschülerin dann an Sylvie heran: „Stimmt das Gerücht?“, fragte sie. Leugnen konnte und wollte Sylvie nicht mehr. Sie war gewissermaßen zwangsgeoutet worden, vor ihrer Schulklasse, mit 14.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sylvie spricht in kurzen Sätzen und in großer Offenheit über ihr Outing und ihre Erlebnisse als junge Lesbe. Mit 16 zum Beispiel verliebte sie sich in ihre Sportlehrerin – ein „Horrorerlebnis“, sagt sie. Nach dem Sportunterricht ging sie auf die Lehrerin zu und erzählte ihr alles. Dass sie „ganz, ganz verliebt“ sei und es nicht mehr länger für sich behalten wolle. Sylvie war klar, dass ihr Geständnis nicht zu einer Affäre oder gar einer Beziehung führen würde. Aber Sylvie geht offen mit ihren Gefühlen um. „Wenn man jemand so liebt“, versucht sie zu erklären, „dann möchte man einfach, dass die Person das weiß“. Und dann beginnt sie kopfschüttelnd zu lachen, als ob sie sich nachträglich noch einmal über ihre Naivität von damals wundere. Die Lehrerin schien von Sylvies Ehrlichkeit überfordert zu sein und ging mit ihr zur Schulpsychologin. Diese wiederum war der Ansicht, dass es besser sei, gleich auch Sylvies Eltern hinzuzuziehen. Doch das wollte Sylvie unbedingt verhindern. Sie wollte ihre Eltern aus der Angelegenheit heraushalten, sie von ihren eigenen wirren Gefühlen und manchmal auch Qualen fernhalten. Die Psychologin versprach ihr, das Gespräch vertraulich zu behandeln und bestellte doch eine Woche später die Eltern ein. „Das war ein unglaublicher Vertrauensbruch“, sagt Sylvie. Vom Anderssein mit all seinen Folgen weiß Sylvie viel zu berichten. Sie erinnert sich an einen Discobesuch, bei dem sie ihre damalige Freundin auf den Mund küsste. Sofort kamen Jungs auf sie zu und zückten ihre Handys, um Fotos von den beiden Mädchen zu machen. Als Sylvie einmal in der U-Bahn die Hand ihrer Freundin nahm, begannen Mädchen auf der Sitzbank gegenüber zu pöbeln: „Igitt, ihr seid Schweine“. In einer fast zehn Jahre alten Studie des Berliner Senats ist zu lesen, dass ein Großteil der jungen Lesben und Schwulen mit ihrem Outing negative Erfahrungen verbinden. Bis heute scheint sich daran nicht viel geändert zu haben. Zumindest, wenn man Sylvies Erzählungen folgt. Verständnis und echte Freundschaft erlebte Sylvie eigentlich nur daheim bei ihren Eltern und in der jungen lesbischen Szene Münchens, ihrem sozialen zu Hause. Mit 14 besuchte Sylvie zum ersten Mal das „Diversity“-Café im Glockenbachviertel. Damals war das Café ein kleiner, trister Raum im Gebäude der Glockenbachwerkstatt. „Das war mir der allerwichtigste Kontakt zu Gleichaltrigen“, sagt Sylvie. „Dort standen die Leute hinter mir“. Dort sprachen und sprechen ihr die Leute gut zu und ermutigen sie, sich öffentlich zu outen. Hier findet Sylvie ihre ersten beiden Freundinnen. Fast jeden Donnerstag geht sie am Abend ins „Ragazza“ in der Jahnstraße, wo sich ungefähr dreißig junge Lesben treffen und Themenabende veranstalten. Die Kicker- und Spieleabende zum Beispiel bedeuten für Sylvie ein Stück Normalität. An diesen Abenden ist sie ganz sie selbst und muss sich nicht verstecken.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sebastian Frietinger, Cornelia Bumes und Sylvie Engl bei der Einweihungsfeier des "Diversity"-Jugendzentrums. Sie kandidieren auf der Rosa Liste für den Stadtrat. In der Schule versteckte sie nämlich Vieles. Wenn in der Sportumkleide über süße Jungs in der Schulklasse gesprochen wurde, war Sylvie still. Über ihre ersten Freundinnen informierte sie in der Schule Niemanden und ihre Besuche im „Diversity“ oder im „Ragazza“ hielt sie geheim. „Ich hatte so eine richtige Parallelwelt“, sagt Sylvie. Ihre Freunde hatte sie außerhalb der Schule und mit heterosexuellen Jungs oder Mädchen hatte Sylvie nur in der Schule Kontakt. Wer als junges Mädchen in München Teil der jungen Lesbenszene sein will, muss sich fast zwangsläufig engagieren – allein die Knappheit des Angebots macht das Engagement der Szenemitglieder unentbehrlich. Deshalb trat Sylvie mit 16 dem Verein „Diversity“ bei, der heute 200 Mitglieder zählt und das Ziel verfolgte, ein eigenes Jugendzentrum für Schwule und Lesben zu schaffen. Sylvie spielte bei der Umsetzung eine entscheidende Rolle: Sie verfasste Bauanträge, sie schlug sich mit Nutzungsänderungsanträgen herum, traf sich mit Vertretern der Stadt und nahm an Raumbesichtigungen teil. Schließlich wurde sie in den „Diversity“-Vorstand gewählt. Anfang 2007 wird das Jugendzentrum genehmigt. „Das war ein großer Tag für uns“, sagt Sylvie so förmlich, als ob sie die Rolle eines Bürgermeisters einnehmen will, der gerade die Rede zur Eröffnung eines Wasserwerks hält. Drei Monate arbeitete sie mit ihrem Team an der Einrichtung des Jugendzentrums in der Blumenstraße, sie strich Wände und bohrte Holzbretter. „Irgendwie identifiziere ich mich schon mit diesen Räumen“, sagt sie und streift stolz durch einen gelb gestrichenen Vorraum in die Küche ihres neuen „Hauses“. Im Juni vergangenen Jahres wurde es eröffnet. Jetzt möchte Sylvie in die Politik gehen, um junge Politik für junge Schwule und Lesben zu machen, sagt sie. In der homosexuellen Szene ist Sylvie bereits als „Diversity“-Vorstand bekannt – „jetzt will ich mein Gesicht der Rosa Liste geben und damit junge Menschen motivieren, zur Wahl zu gehen“. Sie scheint mit ihrem Outing erwachsen geworden zu sein und nun ernst genommen zu werden. Beim nächsten Christopher Street Day zum Beispiel ist Sylvie als Rednerin eingeplant, um vor mehreren Tausend Menschen zu sprechen. „Klar werde ich da nervös sein“, sagt sie. „Aber ich schaffe das schon“. Schließlich ist sie schon ein paar Mal über sich hinausgewachsen.

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