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Jamais-vu - Die Welt mit anderen Augen sehen

Text: Raschka
Da stand sie nun, allein unter hunderten von Menschen, in einem fremden Körper, der nicht ihr gehörte, in einer Stadt, die sie ihr Leben lang gekannt hatte und die ihr auf einmal vollkommen fremd geworden war.



Wie sie es letztendlich geschafft hatten, war ihnen selbst nicht mehr klar. Zurückkommen war kein Problem, das wussten sie, sie hatten es oft genug probiert. So viele Male hatten sie ihre eigenen, gewohnt gewordenen Körper verlassen und waren immer wieder zurückgekehrt. Nur den Austausch hatten sie nie vollziehen können. Über Jahre hinweg hatten sie es wieder und wieder versucht, ausweglos, bis zum heutigen Tag. Und da standen sie nun, jede von ihnen allein unter hunderten von Menschen, in fremden Körpern, in einer Stadt, die sie beide ihr Leben lang gekannt hatten und die ihnen auf einmal vollkommen fremd geworden war.



Lilian atmete tief ein. Ungewohnt fühlte sich dieser Körper an, kräftiger und ein wenig größer als ihr eigener. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie fühlte sich seltsam unbeholfen, als ob sie auf schwankendem Boden ginge. Bereits nach ein paar Schritten begann sie sich aber daran zu gewöhnen und hob den Kopf, um die Welt um sich herum zu betrachten.

Und staunte.

Und schaute.

Ihr stockte der Atem.

Denn diese Welt war eine andere geworden.




Sie hatten es sich natürlich ausgemalt, hunderte Male hatten sie es sich ausgemalt, in den glühendsten Farben, endlich die Welt mit anderen Augen sehen, endlich eine andere Perspektive erleben.

„Du wirst alles mit meinen Augen sehen und ich mit deinen. All meine Erinnerungen wirst du kennen, und ich deine!“

Es würde wunderbar sein.




Lilian betrachtete fasziniert den Kirchturm, der über ihr aufragte. Nie gekannte Bilder, Erinnerungen und Assoziationen stiegen in ihr hoch, die sie noch nicht alle verstehen, geschweige denn einordnen konnte. Sie blickte sich um und sah Menschen mit Gesichtern, die ihr bekannt vorkamen, die sie aber nie zuvor gesehen hatte. Nur in Leonies Erinnerung gab es diese Menschen. Nur in Leonies Erinnerung sah sie Straßen, Kirchtürme und Wiesen, die ihrer eigenen Erinnerung kein bisschen ähnelten, die sie aber auf einmal verstand, ohne sie selbst zu kennen. Sie fühlte mit Leonies Körper.

Der erste Hund, dem sie begegnete, versetzte sie in nie gekannte Hundepanik. Angst, der sofortige Gedanke an Flucht, den sie selbst mit ihrem alten Lilian-Denken nicht loswurde. Und irgendwo aus den Tiefen von Leonies Erinnerung stieg ein albernes Gedicht über Hunde nach oben, das sie von als kleines Kind von ihrer Mutter gelernt hatte, um diese dumme Angst vor den Hunden zu vertreiben. Es war ein ausgeblichener Gedanke, den Leonie oft gedacht haben musste, bei jedem einzelnen Hund vermutlich, und Lilian lächelte ein wenig darüber, lächelte mit Leonies Gesicht, das sie noch immer nicht richtig zu beherrschen wusste, weil es ihr so unvertraut war.

Sie ging die Straße entlang, weiter durch ihre ehemals wohlbekannte Stadt, in der es auf einmal an jeder Ecke Neues zu sehen gab. Hier hatte Leonie vor Monaten gestanden und einen Jungen auf der anderen Straßenseite beobachtet, in diesem Geschäft hatte sie erst vor kurzem eingekauft, und um die Ecke hatte einmal jemand gewohnt, den sie gekannt hatte. Die Erinnerung an ihn kam Lilian schwach und fast verblasst vor, der Name war da und auch das Gesicht, aber keine Einzelheiten mehr. Die Erinnerung war entweder alt oder verdrängt und würde wohl bald ganz ausgelöscht sein.




Leonie fror in ihrem neuen Körper, sie war viel zu leicht angezogen und fühlte sich ziemlich klein und verloren. Wenn das Lilians Normalzustand war, wollte sie hier nicht für immer bleiben. Die Welt sah seltsam aus, ein wenig verschwommen zunächst und plötzlich stieg Angst in ihr hoch, dass ihr irgendetwas passieren könnte, dass diese riesige Stadt sie im nächsten Augenblick überrollen oder verschlucken würde. Es war nur Lilians Angst, das merkte sie schnell, nicht ihre eigene. Dennoch war es erschreckend. Sie stand einige Minuten da und wartete. Nach einer Weile fühlte sie sich besser und sie begann, die Welt um sich herum mit Lilians Bewusstsein deutlicher wahrzunehmen.



"Einen Spiegel brauche ich“, dachte Lilian. Ihre Gedanken hörten sich in ihrem Kopf an wie Leonies Stimme, was sie ein wenig befremdete. Sie versuchte sich an ihre eigene Stimme zu erinnern und sah plötzlich und unvermittelt sich selbst vor Leonies geistigem Auge, so deutlich, dass sie beinahe lachen musste.



Diesen Punkt hatten sie wohl beide nicht gründlich genug bedacht. Ja, sich selbst von außen mit den Augen den Erinnerungen des anderen sehen, natürlich. Aber warum war ihnen denn nicht klar gewesen, dass auch diese Erfahrung alles verändern würde, was sie je gewusst hatten über sich selbst und die Welt, in der sie lebten? Wer würde denn noch in seinen eigenen Körper zurückwollen, wenn er gesehen hatte, wer er selbst war, wer er wirklich war, schonungslos und ohne Selbstgerechtigkeit, nur von außen und ohne all das Wissen, das von innen lebte?



Einen Spiegel also. Sie verdrängte den Gedanken an ihr mageres, schwarzhaariges Selbst mit der Angst in den grünen Augen und dem blassen Gesicht, verdrängte die Lilian, die ihr in Leonies Gedanken so grausam undifferenziert vorkam, so falsch und so anders als sie selbst, dass es sie schauderte.



Was wissen wir schon von den Menschen um uns herum, wenn wir nicht in sie hineinschauen können? Was? Wir haben keine Ahnung von ihnen, nicht von ihren Gedanken und nicht von dem Gefühl, in ihrem Körper zu sein. Wir wissen nichts, auch wenn wir glauben, sie ein Leben lang zu kennen.



In der nächsten Bahnhofstoilette, deren Geruch Leonie seltsamerweise an einen verstorbenen Onkel erinnerte (sie ging diesem Gedanken allerdings nicht weiter nach, da er Leonie offenbar aus unbestimmten Gründen Angst machte) blickte Lilian in den Spiegel.

Was sie sah, war Leonies Gesicht und nichts anderes. Leonie, wie sie sie ihr Leben lang gekannt hatte. Und doch war hier eine fremde Leonie. Ihr eigenes Gesicht kam ihr auf einmal seltsam vage vor, urbekannt, immer dagewesen, und doch auf erschreckende Weise Angst erregend, wegen der tausend blitzschnellen Gedanken und Gefühlen, die in ihr hochstiegen, als sie ihr eigenes, Leonies eigenes Gesicht sah.

Am merkwürdigsten war, dass die Wut fehlte, die sie als Lilian jeden Tag auf ihr eigenes Gesicht gespürt hatte, der verzweifelte Wunsch, jemand anders zu sein und diesen verhassten Körper endlich loszuwerden. Leonie mochte ihr Gesicht, soviel war klar, sie war glücklich damit und hätte nie tauschen wollen – zumindest nicht auf Dauer. Lilian schloss die Augen und öffnete sie wieder, immer noch sah sie Leonies Gesicht vor sich gespiegelt. Sie drehte sich um und ging hinaus, ans Tageslicht, unter hunderte von Menschen, die alle Leonies Gesicht sahen und endlich nicht mehr ihres, endlich ein Gesicht wie es sein sollte, glücklich und schön. So wie sie es haben wollte.




Leonie wanderte die Straßen entlang, versunken in Betrachtungen, fühlte Lilians Bewegungen an sich und merkte dabei, dass es ihr mühelos gelang, nicht viel zu denken. Ihr eigener Geist war ständig bewusst gewesen, immer in Alarmbereitschaft, anders dagegen Lilian. Sie schien eine Methode entwickelt zu haben, einfach abzuschalten, wenn ihr alles zu viel wurde. Und es war ganz klar zuviel für Leonie. Jahre geballter Erinnerungen waren auf sie eingestürmt, völlig unkontrolliert und ungeordnet, laute Stimmen und Menschenmengen, Erlebnisse, die sie nicht verstand, aus dem Zusammenhang gerissene Freude, Wut, Angst und Schmerzen, nichts blieb stehen, alles kam nur auf sie zu wie ein heftiger Sturm oder zu laute Musik, so dass sie sich an eine Hausmauer lehnen musste, um nicht auf einmal ohnmächtig zu werden.

Lilian hatte all ihre Erinnerungen gut unter Kontrolle gehabt, manche hatte sie verdrängt oder überschrieben, manche sorgsam aufbewahrt und gepflegt wie kostbare Schätze, andere malträtiert und versucht, sie zu vernichten, bei den wenigsten war es ihr jedoch gelungen. Alles war noch da, manches schwächer und manches stärker. In jedem Fall war es zu viel für Leonie. Vieles war darunter, was sie nie hätte wissen wollen und sie fragte sich, wie sie Lilian je wieder unter die Augen treten konnte mit all diesem Wissen. Sie fühlte tief innen eine ausweglose, dumpfe Wut und Traurigkeit, die sie sich nur teilweise erklären konnte. Es war, als hätte ihr ganzes Bewusstsein Schalldämpfer bekommen, als wäre alles um sie herum einen Ton leiser und verrauschter geworden wie ein falsch eingestellter Fernseher oder ein Tonträger von schlechter Qualität. Sie spürte ihr Herz klopfen, hörte ihren Atem und sah die Welt um sie herum sich bewegen, wie durch eine Glasscheibe von ihr getrennt und doch noch immer viel zu nahe.

Nach und nach hatten sich die Erinnerungen ein wenig sortiert, der Sturm war abgeflaut und Leonie begann, sich auf ihren neuen Körper zu konzentrieren anstatt auf den Geist. Ein wenig spazieren gehen, Lilians Weltsicht entdecken und dabei sehen, was sie in dieser Stadt erlebt hatte. Vielleicht würde das helfen, all die aufgewühlten Gedanken wie Schlamm in einem Teich sich setzen zu lassen.



Wer konnte sagen, wie es sein würde? Was sie über einander erfahren und wie es ihr Verhältnis zueinander verändern würde? Es gab so vieles, was sie nie gewagt hatten auszusprechen und nun war es endlich unausweichlich, sie würden alles wissen, alles übereinander und alles über sich selbst, sie würden endlich die Wahrheit erfahren, die sie so lange herbeigesehnt hatten. Aber wer wusste schon, ob ebendiese Wahrheit nicht auch alles zerstören konnte?



Zuerst fiel es Leonie nicht bewusst auf, aber dann merkte sie plötzlich, dass sie jetzt mehr Sprachen beherrschte als je zuvor; dass sie nicht nur englisch denken, sondern auch französisch sprechen und spanisch zumindest radebrechen konnte. Es war faszinierend. Sie erkundete, jetzt mit wacherem Bewusstsein, gierig Lilians Wortschatz, ihre Fähigkeit, Worte zu verbinden und zu verstehen, die sie, Leonie, nicht einmal gekannt hatte. Alles war neu und aufregend mit diesen Worten, und alle Dinge hatten auf einmal völlig neue Gesichter. Eine Kirche war nicht mehr nur eine Kirche, sondern hieß plötzlich auch Church, Eglise oder Iglesia. Und je nachdem, in welcher Sprache sie dachte, löste das Wort sehr unterschiedliche Assoziationen aus. Dass Denken so funktionieren konnte, war ihr nicht klar gewesen.



Sie stellte auch bald fest, dass Lilian vor ungewöhnlich vielen Dingen eine unbestimmte, schnellatmige Angst empfand. Autos, die sich ihr näherten und Menschenmengen (mitten auf einem belebten Platz, eingezwängt in einen Pulk Passanten, geriet sie in vollkommen grundlose Panik und flüchtete sich nach Lilian-Art in die nächste ruhige Straße). Immer noch fühlte sich ihr Kopf seltsam gedämpft an, auch wenn sie sich allmählich daran gewöhnte. Offenbar war dies Lilians Art zu fühlen.



Während sie an einem Imbissstand ein Sandwich aß (nie zuvor hatte sie Mayonnaise ausstehen können), fühlte sich Lilian allmählich immer besser. Je mehr sie sich in Leonies Gedanken zurechtfand, desto sicherer fühlte sie sich. Ihre alten Ängste waren verschwunden, sie sah die Menschen um sich herum mit anderen Augen und alle schienen ihr viel freundlicher zu sein, harmloser und auch nicht mehr so verachtenswert. Alles in allem war es gar nicht so schlecht. Sie hätte bleiben wollen, wenn ihr nicht Leonies Art zu denken so falsch vorgekommen wäre. Undifferenziert und vage, ohne viel Tiefe und Substanz. Die Gedanken flackerten hier- und dorthin, ständig in Bewegung, ohne dass Lilian sie einfangen konnte. Sie begann bereits, ihre eigene Versunkenheit und die gelegentliche Leere zu vermissen, die vielleicht nicht immer zum Besten, aber immerhin beruhigend gewesen waren. Leonie konnte einfach nicht aufhören, ständig zu denken. Es konnte einem nach einiger Zeit auf die Nerven gehen, dachte Lilian.



Nach etwa einer halben Stunde überkam Leonie das Verlangen nach einer Zigarette. Fast automatisch griff sie in ihre Tasche, nahm die halbvolle Packung heraus und zündete sich eine an, alles ohne darüber nachzudenken. Lilian rauchte viel, es war ihr so sehr zur Routine geworden, dass sie, anders als Leonie, mit Zigarettenrauch keinerlei Erinnerungen mehr verband.



Warum nicht einfach hier bleiben, nicht mehr zurückkehren, diesen Körper behalten und Leonie vergessen, ihr alles überlassen, was ich selbst nicht mehr haben wollte und ihr Leben stehlen? Egoistisch wäre das, natürlich, aber was bleibt am Ende von allem denn anderes als Egoismus?

Plötzlich fiel ihr ein, was sie vergessen hatte, was Leonies Gedächtnis offenbar als zu unwichtig gespeichert hatte.




Welche Farben werden wir sehen? Nur altbekannte, rot, blau und grün, wie wir es immer gekannt haben? Oder wird die Welt plötzlich gänzlich anders angestrichen sein, werden wir Dinge ohne Namen sehen, unbekannte Farben, die uns bekannte Namen tragen und doch nicht dieselben sind, die wir kannten?

Es war Lilian gewesen, die als erste die Idee gehabt hatte. „Wäre es nicht interessant zu wissen, ob alle Menschen dieselben Farben sehen oder am Ende eine vollkommen andere Sicht der Dinge haben?“

„In den Körper eines anderen müsste man hineinfühlen können…“




Aber es war nicht eingetreten. Alle Farben waren ihr so vertraut wie eh und je, keine Überraschungen, höchstens geringe Abweichungen in den Schattierungen und eine leichte Kurzsichtigkeit, die Leonie nie erwähnt hatte. Aber keine neuen, fremden Farben. Enttäuschung machte sich in ihr breit und auf einmal hatte sie genug davon, fremde Gefühle fühlen zu müssen, fremde Erinnerungen in sich zu haben und einen fremden Körper durch die Straßen tragen zu müssen, der ihr nicht gehörte und den sie nie völlig annehmen würde, wie angenehm er auch sein mochte. Es wurde Zeit zurückzukehren.



Noch eine Zigarette und noch ein Blick in Richtung des Dunkelhaarigen, der sie an Laurin erinnerte, nicht meine Erinnerung, dachte Leonie, aber eine gute. Eine für schlechte Zeiten. Seine Hände auf Lilians Körper, sie hätte viel gegeben dafür, diese Erinnerung mitnehmen zu dürfen. Alles Schlechte zurücklassen und nur die guten Gefühle behalten, sie stehlen, sie zu den eigenen guten Gedanken hinzufügen und sie bei Gelegenheit wieder betrachten, wenn man einsam ist. Lilian war oft einsam, das konnte Leonie fühlen, aber mit Laurin war sie es nicht gewesen. Eine gute Erinnerung.



Und als es Zeit war, zurückzukehren, ihre Versprechen zu halten, alles zu verlassen und zu vergessen , was doch noch so neu und ungewohnt war, zögerten sie, zögerten aber nicht lange. Denn wer würde denn schon in einem fremden Körper bleiben wollen, einem Körper, der ihm nicht gehörte, in einer Stadt, die er sein Leben lang gekannt hatte und die ihm auf einmal vollkommen fremd geworden war?



"I have always been here

I have always looked out from behind these eyes

It feels like more than a lifetime

Feels like more than a lifetime



Sometimes I get tired of the waiting

Sometimes I get tired of being in here

Is this the way it has always been?

Could it ever have been different?



Do you ever get tired of the waiting?

Do you ever get tired of being in there?

Don´t worry, nobody lives forever

Nobody lives forever



I will always be here

I will always look out from behind these eyes

It´s only a lifetime

It´s only a lifetime

It´s only a lifetime



(Pink Floyd - "A New Machine")

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