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Sechshundersechsundvierzig Männer in einer Nacht

Text: hecuba
Bis vorgestern abend hielt ich mich für gesellschaftlich-kulturell offen, tolerant, unspießig und unschockbar ... so insgesamt und in Sachen Sex so oder so. Jeder so, wie er mag, logo. Dann sah ich die Dokumentation eines neuen Weltrekords.



Donnerstagabend, gegen elf ... ich gucke Harald-Schmidt-Show und zappe in den Werbepausen weiter. Lande bei Wahre Liebe oder wie das heißt und lasse mich von viel nacktem Frauenfleisch fesseln. Bericht über eine Erotik-Messe in Warschau. Die neuesten Trends in der Porno- und Sex-Industrie. Wo man hinschaut, knackig-nackigt-stangenhangelnde Gogo-Girls. Welche Produkte die bewerben, ist nicht klar, aber nett anzuschauen sind sie, denkt man sich die Horden der starrenden Schnauzbärte drumherum mal weg.



Bislang nichts Neues. Kommen wir zum Messehighlight. Drei polnische Mädels, alle locker unter 26, treten an, um einen Weltrekord zu erstreiten. („Erstreiten“ trifft es nicht ganz.). Sie strahlen in die Kamera. Sie werden den Männer-Rekord brechen, heute nacht. Wer schafft die meisten Kerle. Oder: Wer schafft es, sich von den meisten Kerlen durchnudeln zu lassen. Das ist doch mal eine richtig nette Idee für einen Weltrekord. „Ich möchte einfach einmal im Leben so richtig berühmt sein“. Kascha (??) strahlt glücklich-euphorisch in die Kamera. Ich starre zurück. Sorry, Harald-Schmidt, ich muß hier weitergucken.



Wird es das, was ich denke, das es wird? Es wird. Auf einer Bühne in der Messehalle. Nett drapierter Vorhang im Hintergrund, Blumengestecke dekorativ verteilt, Riesen-Übertragungsleinwand klebt vorm Vorhang. Drei Lederliegen. Oval. Olivgrün. Groß. Mit Kopfkissen. Auch aus Leder, farblich auf die kargen Liegen abgestimmt. Liegenhöhe: ein guter Meter. Bauchhöhe, halt. Im Abstand von etwa zwei Metern nebeneinander. Neben jeder Liege eine Anzeigetafel mit Stoppuhr. Für‘s Spiel auf Zeit um Masse.



Unter dem Getöse der Zuschauer erklimmen die drei Mädels die Bühne. Glitzergeschminkt und strahlend und nackt. Bis auf die grazilen hohen Hacken. Sie gleiten zu den Liegen und lassen sich gekonnt darauf nieder. Schlagen die langen Beine übereinander ... hingegossen wie für eine Playboy-Photosession ... alles noch nett und gewohnt. „Wir danken der Firma weiß-der-Geier für die großzügige Spende von 2.500 Kondomen.“ Der Moderator in schniekem Schwarz ist begeistert. „Und nun, verehrtes Publikum, auf zum Weltrekord“. Ein dynamischer Schwenker zu den Mädels. Die über-lebensgroß auf der Leinwand zu sehen sind, jede für sich. „Are you reeaaaadyyyy???? – OK – GO!!!“ Und es geht los. Drei Männer, unten‘rum nackt, mit drei weißen Team-beschrifteten T-Shirts oben‘rum bekleidet, stürzen auf die Bühne. Eregiert (durch animierende Girls vorab animiert und startklar gemacht, zeitsparend, wie wir erfahren) und kondomd. Die drei stellen sich an den drei Lederliegen auf ... lüpfen ihre T-Shirts ... umfassen gekonnt mit der Rechten ihre Schw****. Drei Mädels rutschen ihnen entgegen ... und spreizen die Beine. Es kann gerammelt werden. Jeder „Akt“ muß eine Mindestanzahl von Sekunden dauern. Wieviele ist mir entfallen. Auch entfallen, ob abgespritzt werden muß, damit es zählt. Ich glaub schon. Oder es gibt eine Mindestanzahl von Stechern. Die vollzogenen Akte flitzen von der Bühne, die nächsten flitzen hinauf, alle schön im weißen T-Shirt. Jeder darf mitmachen - T-Shirt und Kondom werden gestellt. Das geneigte Publikum kann alles mitverfolgen. In Großaufnahme. Besonders häufige Einstellung: Die Gesichter der Mädels. Ich stelle sachlich fest: nach dem xten Kerl ist ihnen das Strahlen vergangen.



Mein Kopf schwirrt. Ich sehe sie alle vor mir ... Alice Schwarzer und den Papst und Emanzipation und Pornos und Toleranz versus Verklemmtheiten und Moral und Werte und Errungenschaften wie die Freiheit und die Selbstverwirklichung ... und das Hoch auf unsere westlich-aufgeklärte Kultur ... und jeder darf doch wie er will ... und mir fehlen die Worte. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich beschließe zumindest: Was immer ich da eben sah ... es hat nichts mit Sex zu tun. Irgendwie beruhigt mich das, obwohl ich weiß, es stimmt nicht.



In der nächsten Kameraeinstellung strahlen die drei Weltrekordlerinnen wieder. Siegerinnen-Ehrung. Frisch geduscht und neu gewandet. Mit Krönchen im frisierten Haar und riesigen bunten Blumensträußen im Arm. Kascha hat das Rennen gemacht. Sechshundertsechsundvierzig Männer „hatte“ sie in dieser denkwürdigen Nacht. „Nein .... das war für mich kein Problem“ ... sie lächelt lapidar in die Kamera ... fixiert das imaginäre Auge des Zuschauers ... „Meine Familie und meine Freunde wissen, was ich hier tue ... sie unterstützen mich ... und wenn ich durch die Straßen meiner Heimatstadt gehe, sprechen mich manchmal Leute an, die von mir in der Zeitung gelesen haben.“



Ihre Mitstreiterinnen werden keines zweiten Kamerablickes mehr gewürdigt. Sie haben’s ja auch nur auf sechshundertsiebenunddreißig bzw. sechshunderachtundzwanzig Männer gebracht.

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