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Großes zu verlieren

Text: Buddha_vom_Brot
Den ganzen Abend über war nicht viel passiert. Er war nur da gesessen und hatte geschwiegen. Jetzt aber kippte er wahllos mehrere Schnäpse in sich hinein. Das half. Seine Stimmung heiterte sich wunderbar auf. Nach etwa einer Stunde begann er sogar mit kratziger Stimme zu singen, My Way, danach irgendetwas von Johnny Cash. Jemand begleitete ihn auf der Gitarre und eine Zeit lang ging es ziemlich wild her in dieser Kneipe. Als er sich dann vor dem Tresen übergab, war der Zauber gebrochen.



Am nächsten Morgen wusste er nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Aber das war auch nicht wichtig. Er hatte nach Hause gefunden, das war wichtig. Das stand fest.

Ebenso fest stand für ihn, dass er nie wieder einen Krieg führen würde. Nicht gegen die Russen, nicht gegen Bin Laden. Und nie wieder gegen eine Frau.



Grenzverletzungen würden von nun an toleriert werden, auch wenn das sicher hieß, dass er neue Wunden davontragen würde. Und wenn er eingekesselt wird, im Kreuzfeuer, hoffnungslos unter Beschuss, würde er sich groß machen und warten, bis er tödlich getroffen zu Boden sinkt oder die Schlacht auf andere Weise beendet wird.

Denn eigentlich ist es ja egal. Am Ende geht sowieso alles vor die Hunde. Das ist es: am Ende doch sterben.



Am vierten Mai hatte sie gemerkt, dass sie schwanger war. Heute war der 29. Juni. Und er hatte er sie verloren. Innerhalb weniger Wochen zerbrach alles, was bis dahin unzerstörbar schien. Ein elementarer Schlag, der alles um ihn herum verheerte.



Mit seiner Liebe hatte das alles nichts zu tun. Auch nicht mit ihrer. Denn selbst wenn sie sich jetzt stritten, bis die Tränen flossen und der Fernseher fiel, widerrief keiner von beiden. Keiner leugnete seine Liebe oder behauptete, dass die Gefühle verloren gegangen seien. Liebe war am Ende nicht das Problem. Es war eine ganze Serie von Gewalten, die durch den Embryo in Gang gesetzt worden war und gegen die Liebe nichts auszurichten vermochte.

So geriet der Boden unter ihren Füßen ins Wanken, sie taumelten und konnten sich nicht mehr aneinander festhalten, flogen in immer größeren Bahnen um sich selbst, bis sie schließlich aus ihrer gemeinsam Umlaufbahn geschleudert wurden.



Sie hatte alle guten Argumente auf ihrer Seite, das wusste er. Außerdem trug sie ja das Baby in ihrem Bauch, deswegen war sie zu überzeugen, nicht umgekehrt.

Sie sei doch viel zu jung um Mutter zu werden, behauptete sie etwa, und obwohl er diesen Standpunkt nachvollziehen konnte, war er nicht bereit, ihr auch Recht zu geben.

Irgendwann wolle sie sehr gern mit ihm Kinder haben, aber jetzt sei noch nicht die richtige Zeit dafür, wiederholte sie immer wieder.

Aber der Zeitpunkt sei doch jetzt da, genau jetzt, entgegnete er, sie hätten nun mal jetzt ein Baby gemacht, ob es ihr passe oder nicht.



Auch wenn sie weinte, und das passierte mehrmals am Tag, ging er nicht auf sie zu. Manchmal sah er sie an und forderte sich selbst zum Einlenken auf: Nimm sie in den Arm, akzeptiere ihre Entscheidung, steh endlich wieder als ihr Freund vor ihr!

Aber je mehr er sich anstrengte seine Gefühle zu besänftigen, desto unbeugsamer wurde er.



Das Baby war für ihn die Chance, ihm seine einsame Kindheit zu entgelten, Element einer Familie zu sein, Teil zu sein von etwas, das mehr war als nur er selbst - wie eine geheime Religion, der nur das Baby, sie und er angehörten.

Bis dahin war er sich diesem Loch in seiner Seele nie bewusst gewesen. Jetzt riss es auf und schrie wütend und mit großer Verzweiflung aus ihm heraus.

Nur einmal sprach er es laut aus, kurz nach dem ersten großen Streit, als er betrunken vor ihr stand. Die anderen tausend Male flüsterte er es nur, immer nachts, wenn sie neben ihm schon schlief: Bitte bring mein Kind nicht um!



Als sie von der Klinik nach Hause fuhren, merkte er bereits, dass nichts mehr so sein würde, wie früher. Beide glaubten anfangs, sie könnten die jüngste Vergangenheit verdrängen, doch als sie versuchten, ihr gewohntes Leben fortzusetzen, stellten sie fest, dass es nicht mehr da war. Aufgerieben.

Nach dem zermürbenden, wochenlangen Krieg und dem täglichen Geschrei zogen sich nun beide in Schweigen zurück.



Die Abtreibung war für sie schwieriger gewesen, als sie gedacht hatte und trotz ihrer Überzeugung, dass sie das Richtige getan hatte, musste sie es jetzt für falsch halten.

Echte Trauer machte sich breit. Mitgenommen von dem, was sie durchgemacht hatte, hing sie tagelang niedergeschlagen im abgedunkelten Wohnzimmer herum, ging nicht mehr vor die Tür, aß nichts.



Ihm war klar, dass es seine Aufgabe war, sie zu trösten. Nur schaffte er es nicht. Er konnte sich nicht überwinden. Er saß nur da und sah sie leiden. Und irgendwann erkannte er, dass ihm das gefiel. Er hatte Spaß daran. Zahl nur für das, was du getan hast, dachte er. Und erschrak.



Das war der Augenblick, als er endlich begriff, wie hässlich es in seinem Innern jetzt aussah. Er war sich selbst fremd geworden, konnte plötzlich nicht mehr ertragen, er selbst zu sein. Auch ihre Nähe ertrug er nicht mehr, denn jedesmal wenn er sie ansah, sah er nur seine eigene erbärmliche Schwäche, das fratzenartige Spiegelbild dessen, was aus ihm geworden war.

Eine große Krise, eine, die erste – und ich verliere mich selbst, ging ihm durch den Kopf.



In der Nacht ließ er sie wissen, dass er eine Weile weggehen müsse, um sich über einiges klar zu werden. Ein Vorwand. Er hatte nicht den Mut, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie allerdings begriff sofort, was vor sich ging.



Als er am nächsten Morgen seine Sachen packte, streichelte sie ihm über den Rücken.

„Ich weiß, dass ich dir weh getan habe. Und ich kann dir nicht böse sein, wenn du nicht mehr mit mir zusammen sein kannst“, sagte sie. „Auch wenn ich es bereue, bedeutet das nicht, dass du mir vergeben musst. Du sollst nur wissen, dass mir nicht klar war, wie hoch der Einsatz war.“



Keine Kriege mehr, dachte er zum ersten Mal. Großes ist zu verlieren.

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