Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Das war Madrid ...

Text: pinkas
Ein schöner Sommertag im Juli des Jahres 2002.



10.53 Uhr.



(Kamerafahrt über einen in einen Bahnhof einfahrenden Zug. Zoom von hinten nach vorne.)



Zugtür geht auf, heraus kommen Leute und es strömen Leute hinein. Der Zug fährt ab. Rücklichter.



Schwenk auf Bahnhofschild über Bahnhofvorhalleneingang. Madrid CS.



Geräuschkulisse von vielen Gesprächen, die durcheinander gehen und unverständlich bleiben. Zwischendurch Lautsprecheransagen.



Szene. Sitzrondell aus Metall. Eine Mutter mit zwei Kleinkindern. Beide hüpfen im Kreis, die Mutter versucht verzweifelt sie zum ruhigen Sitzen neben ihr zu überreden. Businessmann mit Kopfhörer telefonierend, gleichzeitig auf Palmtop seine Termine checkend. Koffer neben ihm in Wildlederoptik. Neben ihm ein älterer Mann mit elegantem Hut und Zeitung. Zigarrenrauch steigt um ihn auf.

Zwei freie Plätze.



Zoom von unten.



Zeitlupe wie sich zwei Hintern in Jeans darauf plumpsen lassen.



10.55 h.



Kameraeinstellung. Inneres Auge. Umherschweifender Blick, doch alles nur verschwommen und unklar. Hektisch und fahrig. Kurz schwarze Blende, dann wieder Augen geöffnet. Flackern der Augen, dann ruckartige Bewegungen. Blick (der Kamera = Augen) schweift auf Schulter. Da ist eine fleischige Hand, die behaart ist und in einer Uniform steckt. Augen nehmen Mensch in Uniform als Wachmann wahr, der etwas in einer fremden Sprache viel zu schnell erklärt und dann handgreiflich zum Aufstehen zwingt. Mitgeschleift. Kopf in Richtung Boden. Kacheln auf denen Kaugummi klebt und Zigarettenstummel liegen. Eine Bananenschale wird passiert und der Körper stößt sich willenlos an einer Tür.

Wenige Sekunden später Blick zur Decke und über dem Gesicht erscheinen drei Gesichter. Eine Hand tätschelt das Gesicht. Ich kenne nur ein Gesicht.





„Wo bin ich? denke ich mir. Was passiert mit mir? Joe, warum liege ich hier?“



11.01 h





Die Schwester vom Roten Kreuz misst Blutdruck und Puls. Telefongespräch. Unverständlich und kompromisslos.



11.09 h.



Krankenwagen am Eingang. Blaulicht an, Sirene aus. Große Aufregung. Eine Gaffermenge bildet einen Kreis um das Geschehen.



Kameraperspektive wechselt in Aufsicht von oben. Menschen wie Ameisen. Aufgescheuchtes Herumgelaufe. Eine Trage wird herbei getragen.



Abschwenk. Tür zugeschmissen. Rücklichter entfernen sich in Zeitraffer. Fahrt durch die Innenstadt hinter Krankenwagen.



Szene. Krankenhaus Hintereingang. 2 Krankenhausangestellte nehmen die Lieferung entgegen. Formalitäten werden abgefragt.



Name Eleni Mavros. Alter 21. Staatsangehörigkeit griechisch. Weitere Angaben unnötig.



Szene. Wartesaal. Topfpflanzen. Stöhnende Kranke und ich.



Kamerafahrt wie auf Karussell, nur niemand hält es an.



Innerer Monolog mit Stimme aus dem Off.

Ich halte das Formular in meinen Händen. Sonst weiß ich nicht, warum ich hier bin. Ich wollte doch eigentlich nur nach Barcelona weiterfahren und mein Anschlusszug fährt in 28 Minuten. Wie komme ich hier nur weg?



Blick bleibt bei Schild hängen. Ich versuche zu entziffern was da steht, aber meine Wahrnehmung und meine Spanischkenntnisse lassen zu wünschen übrig. Ich fühle mich ausgeliefert.



Lautsprecheransage: „Mavros, Eleni, por favor.“



Ich folge wie in Trance, weil ich noch immer nicht verstanden habe, was mit mir passiert und was ich hier mache.





Raum 058



11.42 h.



Szene. Tisch mit kleinem Blumenstrauß, Computer, zwei Stühlen und eine Liege an der Wand. Ein Plakat mit einem Modell der menschlichen Muskeln hängt an der Wand. Vorhänge sind zugezogen, weil draußen Sonnenschein und Temperaturen über 35 Grad.



Ich befinde mich auf der Liege und mir wurde klargemacht, dass ich dort bleiben solle.



Die Tür geht auf und eine Frau in weißer Arztkleidung kommt zielstrebig auf die Liege zu.

Sie fragt Dinge auf Spanisch, merkt aber schnell, dass ich nichts verstehe und fragt dann auf Englisch weiter.

Ich verstehe den Grund ihrer Besorgnis wenig und schaue sie verwundert an.



Sie holt aus dem Schrank, der neben der Tür steht, Gerätschaften wie Stethoskop und weiteres medizinisches Gerät. Sie schaut durchdringen auf die Patientin, die wie ein Häufchen Elend auf der Liege liegt und schwitzt.



Diagnose. Unterzuckerung. Sonnenstich und erschöpfende Auszehrung.



Die Ärztin lächelt und sagt in gebrochenem Englisch etwas Aufmunterndes, streicht sanft durch die Haare, sie hat einen resoluten Händedruck, was man ihr gar nicht zutraut, und verschwindet genauso zielstrebig wieder aus dem Raum wie sie gekommen ist.



13.22 h.



Szene. Klinisch reiner Raum mit null Atmosphäre. Kamerafahrt an den Wänden entlang, zur Tür und wieder zurück.

Mir dreht sich alles, denke ich mir, ich will, dass dieser Albtraum schnell zu Ende ist und Barcelona und ich bald zusammenkommen. Ich hab so Hunger und mein Kopf hämmert, sone Scheiße … Wie komm ich hier so schnell wie möglich raus und wo zum Teufel ist Joe? Hilfe!





- (Kamera = Auge. Blick aus dem Fenster. Die Luft flirrt. Ab und zu schwarz, dann Augen

wieder auf. Anstrengung sie geöffnet zu halten ist ersichtlich.)





19.43 h.



- (Kamera auf Gesicht, geschlossene Augen. Tiefes Atmen. Schlafend.)







Der Tag geht vorbei. Die Sonne geht langsam über der Skyline von Madrid unter und das Leben erwacht nach der Siesta wieder. (Kameraaufsicht über Zentrum. Bewegung. Lärm aus Straßen und Läden. In Hinterhof miaut eine Katze, Fliegen kreisen über einer Mülltonne mit Lebensmittelresten.



21.31 h.



Kamerafahrt aus dem Krankenzimmer durch Straßen voll von pulsierendem Leben, durch Straßenschluchten mit Cafés, in denen alte Männer sitzen, Karten spielen, Stierkampf im Fernsehen läuft und …





…das war Madrid.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: