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Ende der Nacht

Text: butcher_boy
Kalt ist der Abendhauch (Teil 1.)



Oskar Braun, wohnhaft im ersten Stockwerk des einzigen grünen Hauses der Halbmondstraße, hat heute Todestag. Und wenn ihn nicht alles täuscht, ist es bereits der dritte dieses Jahres. Obwohl es erst Anfang Mai ist. Obwohl es der mürrische Kirschbaum vor Oskars Küchenfenster erst vergangene Woche für notwendig erachtete, seine rosa zarten Blüten der Öffentlichkeit zu präsentieren. Todestag, das ist Oskars persönliche Bezeichnung für jene Lücken im Kalender, die er in leiser Schrift mit dem Wörtchen „Beerdigung“ versieht, daneben eine Uhrzeit notiert. Und sollte einmal kein Arzttermin oder Besuch seiner intoleranten, kinderlosen Tochter bevorstehen, so sticht dieses Wort bedrohlich sprunghaft hervor in Oskars nahezu unberührtem Kalender. Vor zwei Tagen erfuhr Oskar, dass heute ein Todestag sein würde. Aus der Zeitung. Da stand ein Name, Lorenz Schobert, und darüber ein schmales Kreuz aus Druckerschwärze. Oskar hatte die Frühstücks-Tasse aus Porzellan in der Hand, in der sich kein Kaffee befand, sondern schwarzer Tee.



„Nicht schon wieder“, hüstelt Oskar und kramt die braune Schuhpolitur zwischen Socken und Nähzeug hervor. Nichts in der Wohnung mit ihren vielen toten Winkeln hat seinen Platz. Doch Oskar weiß, wo er suchen muss. Er weiß, wo sich die Dinge immer verstecken. Hat es dich also erwischt, Lorenz! Hast es tatsächlich geschafft, im herrlichsten Monat des Jahres deinen letzten Atemzug zu tun. Oskar setzt sich. Er poliert sein bestes Paar Schuhe. Osmose schleicht herein und schmiegt ihr dickes Fell an Oskars gesundes Bein. „Ich werde jetzt in die Stadt gehen“, entgegnet Oskar dem Schnurren seiner Katze, schleudert beide Pantoffeln Richtung Sessel und humpelt zum Spiegel. „Ich muss ihn heute besuchen. Sein letztes großes Fest. Da muss man ihm die Ehre doch erweisen.“ Das sagt Oskar mehr zu seinem Spiegelbild als zu seiner Katze. Wie gewöhnlich steht das graue Haar auf seinem Hinterkopf wirsch ab. Doch Haare „mit eigenem Willen“ empfindet Oskar für weitaus eleganter als eine kreisrunde Lichtung auf dem Kopf, die ihn bestimmt um Jahre älter machen würde.



Das Gesicht des alten Oskar Braun ist einen Antiquariat, in dem nur etwas gefunden werden kann, wenn es nicht gesucht wird. Wie eine elegante und schlichte Herren-Armbanduhr mit leicht abgenutztem Lederarmband, die von einem Käufer mit Nickelbrille entdeckt wird, der ursprünglich auf der Suche nach einer Lokomotive war. Die tiefen Risse in seiner Haut sieht Oskar als Indikator für ein ausgeschöpftes Leben. Ohne Kompromisse und ohne Scheu vor Arbeit.



„Wenn du Jemanden verlierst, der dir wichtig ist“, sagte der junge Lorenz einmal auf der großen Wiese, „das ist, wie wenn du gerade ein richtig großes Geschäft abgewickelt hast und plötzlich bemerkst, dass kein Klopapier mehr da ist. Alle deine zuvor geführten Gedanken halten an und erzittern in Ehrfurcht. Egal ob du gerade an die blonde Schönheit aus der Zeitung gedacht hast, egal welche Musik der Plattenspieler in deinem Kopf gerade aufgelegt hat – wenn du Jemanden plötzlich verlierst, dann verdampfen alle Gedanken sofort, sind Wasser in der Wüste, denn dieser Verlust ist endgültig.“ Der junge Lorenz saß aufrecht und mit aufgeknöpftem Hemd in der Wiese. Fast schien es, als würde er die Fallschirm-Kolonne des Löwenzahns auf ihrem Flug begleiten. Er nahm einen Schluck Wasser, dann sprach er weiter: „Wenn du einen wichtigen Menschen verlierst, ganz plötzlich, das ist, als hätten deine Gedanken ein Straßenschild übersehen. Du wirst zum Geisterfahrer. Und du willst dir nur noch deine Hände vor die Augen halten, weil nichts mehr unter Kontrolle ist.“



Ein kühler Schweif des Windes rollte damals über die Nasenspitze des jungen Oskar. „Was du immer denkst!“, war alles, was Oskar –seine verschlissenen Stiefel ruhten neben ihm im Gras– als Antwort geben konnte, denn er war glücklich, dass es keine Schatten auf der großen Wiese gab. Der Krieg hatte sein Ende gefunden, da gab es keinen Grund mehr über Straßenschilder und Nacht nachzudenken. Die Nacht hatte endlich ihr Ende gefunden und darüber war der junge Oskar Braun so froh, dass er mit geschlossenen Augen lächeln musste.










picture by the girl who tamed the tiger, flickr.com

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