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"Unsere Heimat geht vor die Hunde"

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Ende der Neunzige Jahre wurde bekannt, dass der ehemalige Direktor der Odenwaldschule in Hessen in den Siebziger und Achtziger Jahren mehrere Schüler sexuell missbraucht hatte. Im Jahr 2010 forderte die Schulleitung eine Aufklärung und Untersuchung der Fälle. Damals war von mindestens 132 Opfern die Rede, die Opferorganisation "Glasbrechen" geht sogar von etwa 500 Opfern aus.

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Neuanmeldungen an der Odenwaldschule stark zurückgegangen, das Geld wurde knapp. Am vergangenen Wochenende wurde bekannt, dass die Finanzierung der kommenden Jahre nicht mehr gesichert ist – die Schule muss schließen. Dieses Schuljahr soll noch beendet werden, dann müssen die Schüler gehen. Derzeit sind es noch 149, mehr als ein Dutzend davon sind Abiturienten – auch Schulsprecher Yannik, 19, der uns von seiner Zeit an der Odenwaldschule erzählt hat:

Der Ort, der für mich ein Zuhause ist, der ist für andere ein Ort des Schreckens und der Angst. Manchmal erfuhr man so etwas bei einem Altschüler-Treffen, wenn man mit Ehemaligen zusammen eigentlich nur eine Zigarette rauchte. Und plötzlich kam man auf die Missbrauchs-Themen zu sprechen. Keiner hat uns direkt ins Gesicht gesagt, was ihm konkret passiert ist. Aber das war auch gar nicht nötig. Ich war trotzdem jedes Mal sehr betroffen, wenn mir jemand gegenüberstand, der missbraucht worden ist.

Ich habe an vielen Gesprächsrunden mit Opfern teilgenommen. Klar waren die Opfer sehr, sehr wütend. Aber wir waren selbst auch wütend, denn der Opferverein hatte vor, die Schule zu schließen, das wollten wir nicht, wir waren ja gerne hier. Am Ende hat es aber doch gut getan, sich an einen Tisch zu setzen. Uns verband ja das Schüler-Sein. Es ist derselbe Ort und Name, aber es ist nicht mehr die gleiche Schule wie damals.

Es war schockierend, zur Schule zu fahren und zu denken: "Was wohl hinter diesen Fenstern alles passiert ist...?"

Ich bin 2011 an die Odenwaldschule gekommen. Meine Familie und ich kannten sie aus der Presse, ich wusste grob Bescheid: dass der Schulleiter übergriffig geworden war und so etwas. Unser Bild war also nicht so gut, aber wir haben uns die Schule trotzdem angeschaut. Es war schon etwas schockierend, dorthin zu fahren und zu denken: "Was wohl hinter diesen Fenstern alles passiert ist...?" Ich hatte dann eine Führung mit einer Schülerin, die mir alles toll erklärt hat. Mir wurde dabei vor allem klar, welche Möglichkeiten die Schule mir bietet: superkleine Klassen, kein Frontalunterricht, zig Freizeitangebote.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Yannik Güldner ist Schulsprecher der Odenwaldschule und macht dieses Jahr dort sein Abitur.

Nachdem ich dann auf der Schule war, bekam ich auch schnell eine differenziertere Sicht auf alles. Ich fand es toll, in einer Klasse mit nur zehn Schülern zu sein, das bedeutet, dass man sich viel besser einbringen kann. Gearbeitet wurde immer in Gruppen. Und: Bei uns gab es nie ein Elitedenken im klassischen Sinn. Natürlich war man sich bewusst, wie viel Geld da investiert wurde. Auf der Schule im Miteinander spielte das aber überhaupt keine Rolle. Ungefähr ein Drittel der Schüler ist vom Jugendamt der Schule "zugewiesen worden" und ganz am Anfang, als ich noch neu war, habe ich mal gefragt, wer vom Jugendamt ist. Wir saßen im Kreis zusammen und ich habe gesagt, dass sie mal die Hand heben sollen. Auf einmal haben mich alle total schräg angeschaut. Es ging nicht darum, aus welcher sozialen Schicht man kommt – das habe ich dann auch begriffen. Es ging darum, Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Fotografen lauerten uns mit ihren Teleobjektiven auf

Als ich kam, war der Umgang mit den Medien noch sehr schwer. Die Presse hat immer wieder ein sehr rabiates Verhalten an den Tag gelegt. Schüler wurden belästigt und zum Beispiel dabei fotografiert, wie sie zum Essen gehen. Fotografen lauerten uns mit ihren Teleobjektiven regelrecht auf. Nach und nach wurde uns klar, wie man mit Medien sprechen muss, mittlerweile gehen wir sehr offen und ehrlich damit um und haben auch einen eigenen Presseberater, mit dem wir uns rückversichern können.

Heute ist die Odenwaldschule sicherlich eine der sichersten Schulen Deutschlands, denn keine andere steht so unter medialer Beobachtung. Hier gibt es ein unglaublich gutes System, das vorbeugen soll, dass je wieder irgendetwas passiert: Ich habe diverse Menschen an der Hand, an die ich mich jederzeit wenden kann, wenn irgendetwas komisch ist oder schief läuft. Dennoch wird man immer noch schräg angeschaut, wenn man sagt, dass man auf die Odenwald-Schule geht, die Leute sagen dann: "Was? Du gehst auf die Skandal-Schule?" Man muss sich immer rechtfertigen und so was sagen wie: "Schon, aber das ist 30 Jahre her, heute ist das eine sehr, sehr gute Schule“. Wenn man dann erzählt, was man auf dieser Schule alles machen kann, dann sind viele erstmal überrascht und fangen an, neu darüber nachzudenken.

Umso trauriger ist es, dass jetzt der Schulbetrieb eingestellt werden soll. Als ich davon erfahren habe, war das für mich ein totaler Schock, ich dachte erstmal: "Das kann und darf nicht wahr sein!" Aber es wurde dann schnell klar, dass die Nachricht stimmt. Schon am selben Abend haben wir uns gesagt: "Das können wir doch so nicht stehen lassen, wir dürfen uns unsere Heimat nicht rauben lassen!“

Ich habe momentan unglaublich viel zu tun: Ich will helfen, wo ich nur kann. Gebe Interviews, organisiere Aktionen zur Rettung der Schule. Wir kämpfen jetzt für die Schule, auch wenn wir nicht direkt betroffen sein werden, ich habe dieses Jahr ja die Abiturprüfung abgelegt. Wir wissen, dass die Hoffnung klein ist, aber sie existiert. Wir versuchen, uns jetzt zu zeigen, damit die Menschen sehen, dass hier gerade unsere Heimat vor die Hunde geht.

Text: tim-kummert - Cover: dpa (Collage: Lisa-Marie Prankl); Foto: Charlotte Hübner

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