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Zum Glück gezwungen

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Nasser ist zu spät. „Sorry, ich war noch in der Schule“, sagt er und setzt sich an den Tisch in der Frauenberatungsstelle, an dem bereits mehrere Journalisten und ein Kamerateam auf ihn warten. Es ist nicht das erste Mal, dass der junge Mann mit den zwei Steckern in den Ohren und der Kette, auf der in silbernen Buchstaben „Nasser“ steht, mit Medienvertretern spricht. Aber trotzdem wirkt er wie jemand, der sehr knapp auf dem Grat zwischen überdreht und gefestigt wandelt. Seine Worte überschlagen sich, er sagt immer wieder „ich weiß jetzt gar nicht, wie ich das ausdrücken soll“. Dabei kann Nasser eigentlich sehr eindrücklich erzählen, was ihm passiert ist.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nasser trägt seinen Namen mit Stolz um den Hals. Er will nicht anonym bleiben.

Nasser ist vor 18 Jahren in Berlin geboren, er ist libanesischer Herkunft und schwul. Eigentlich sollte man das heutzutage gar nicht mehr erwähnen müssen. Muss man in diesem Fall aber. Denn seine Homosexualität und dass er sich nicht in der Anonymität versteckt, sind Gründe, weshalb spätestens ab kommender Woche viele Medien über ihn berichten werden.

Dann beginnt nämlich der öffentliche Prozess von Nasser gegen seine eigenen Eltern in Berlin. Die Anklage lautet „Entziehung Minderjähriger“. 2012 wurden rumänische Grenzer auf einen jungen Mann auf der Rückbank eines PKW aufmerksam, der eigentlich unter der Vormundschaft des Jugendamtes stand und Deutschland gar nicht verlassen durfte. Der Junge war Nasser, die anderen Männer im Auto sein Vater und seine drei Onkel.

Die Anklage lautet "Entziehung Minderjähriger". Alles andere kann man nicht beweisen.

Nassers Version der Geschichte ist, dass seine Familie versucht habe, ihn zu entführen, um ihm später im Ausland etwas anzutun und so die Ehre der Familie wieder herzustellen. Zuvor hätten sie ihn bereits mehrfach misshandelt und an ein Mädchen aus dem Libanon zwangsverheiraten wollen. Und das eben alles, weil ihr Sohn schwul ist und damit eine Schande für die muslimische Familie. Was die Familie selbst dazu sagt, wird man kommende Woche bei dem Prozess erfahren. Sicher ist allerdings: Bis auf die Entführung, die besagte rumänische Grenzer bezeugen könnten, sind Nassers Vorwürfe nur schwer beweisbar. Deshalb lautet die Anklage auch nur „Entziehung Minderjähriger“, die körperlichen Misshandlungen und die versuchte Zwangsverheiratung, die seit 2011 in Deutschland ein Straftatbestand ist, werden nicht verhandelt. Trotzdem will Nasser diesen Prozess. Und er will ihn öffentlich und mit seinem echten Namen. Denn ihm geht es nicht um Rache. Nasser will ein Zeichen setzen.

Bereits die Tatsache, dass das vom Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain organisierte Pressetreffen mit Nasser in einer Frauenberatungsstelle stattfindet, illustriert das größere Problem, das dahinter steckt: Männer werden als Opfer von Zwangsheiraten oder sogar Ehrenmorden kaum wahrgenommen. Bei der Diskussion geht es primär um junge Frauen, die natürlich auch die Hauptbetroffenen von Zwangsheiraten sind. Dementsprechend ist aber auch das Beratungsangebot angelegt. In Deutschland gibt es nur eine Beratungsstelle für Betroffene von Zwangsheirat, die sich explizit auch an Männer richtet, und die ist in München. Ein weiteres Problem ist das Alter der Betroffenen: Minderjährige können vom Jugendamt betreut und untergebracht werden. Von Zwangsheirat sind allerdings meistens junge Menschen zwischen 18 und 21 Jahren betroffen. Die kann das Jugendamt zwar noch betreuen, je nach Kapazitäten muss es aber nicht. Für Frauen gibt es dann Frauenhäuser und Wohnprojekte. Und für Männer? Bleibt theoretisch erstmal nur die „soziale Wohnhilfe“. Besser auch bekannt als Obdachlosenheim.

>> Warum Zwangsheirat deutlich mehr Männer betrifft als bisher angenommen


Petra Koch-Knöbel, die Gleichstellungsbeauftragte des Bezirks Kreuzberg-Friedrichshain, und Monika Michell von Terre des Femmes, kennen diese Probleme. Beide sind ebenfalls bei dem Treffen mit Nasser anwesend und engagieren sich im Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung, der 2013 eine Studie über das Ausmaß des Problems in Berlin hat durchführen lassen. Das Ergebnis: Unter den teilnehmenden 159 Berliner Schulen, Beratungseinrichtungen und Jugendämtern waren 2013 431 Fälle von Zwangsverheiratungen bekannt geworden – davon betrafen 402 Frauen, aber eben auch 29 Männer. Das können Jungs und Männer sein, deren Frauenwahl der Familie nicht passt. Oder eben Homosexuelle wie Nasser.

Die Dunkelziffer ist vermutlich sehr viel höher. Petra Koch-Knöbel sagt deshalb: „Wir müssen unsere Hilfsangebote auch in diese Richtung ausbauen und Schutzeinrichtungen für junge Männer anbieten.“ Vielleicht könnte Berlin dabei eine Vorreiterrolle einnehmen, schließlich kommen auch junge Homosexuelle aus anderen Teilen Deutschlands oder sogar dem nahen Ausland wegen der vermeintlichen Toleranz in die Stadt. Und diese werden oftmals von ihr Familie gesucht.

Nasser: "Ich will zeigen, dass nicht alle Menschen in Berlin frei und in Frieden leben können."



Monika Michell von Terre des Femmes erklärt die Hintergründe so: „Bei Familien mit patriarchalen Strukturen wird Sexualität nur als Heterosexualität geduldet. Wenn Männer diesem Bild nicht entsprechen und keine Frau heiraten wollen, ist die Ehre der Familie beschädigt und kann im schlimmsten Fall nur mit einem Mord wiederhergestellt werden. Diese Jungen werden dann von der Familie gesucht und sind in Lebensgefahr.“ Was Michell damit auch sagen will: Zwangsehen sind keine Frage von Religion oder Staatsangehörigkeit. Sie treten bei Muslimen, Christen, Türken und Deutschen auf. Und: Nasser lebt seit seinem Outing gefährlich.

Nasser selbst ist das natürlich klar. Aber er sagt selbstbewusst: „Ich habe keine Angst mehr. Ich will selbst bestimmen können, wen ich liebe und andere wachrütteln. Ihnen zeigen, dass nicht alle Menschen in Berlin frei und in Frieden leben können.“ Viele Betroffene von Zwangsheiraten und Gewalt innerhalb der Familie ziehen ihre Anzeigen später zurück. Der familiäre Druck ist einfach zu hoch. Nasser gibt sich hingegen kampflustig, vielleicht auch, weil er in seinem neuen Leben ohne Eltern etwas zu verlieren hat. Seit er mit 15 von einer Mitschülerin vor den Eltern zwangsgeoutet wurde, war sein Leben ein einziger Kampf gegen die Eltern, in dem die Entführung durch den eigenen Vater nur der Höhepunkt war. „Ich dachte jahrelang, ich sei der einzige Homosexuelle auf der Welt. Ich kannte die Welt draußen nicht, wusste nicht, an wen ich mich mit meinem Problem wenden kann. Mittlerweile weiß ich, dass ich kein Einzelfall bin“, erzählt Nasser. Am Ende kontaktierte er das Jugendamt, das den Eltern schnell das Sorgerecht entzog. In dieser Phase kehrte Nasser allerdings immer wieder aus Sehnsucht zur Familie zurück - um dort dann eine neue Enttäuschung zu erleben.

Mittlerweile ist er selbstständig. Er hat einen deutschen Pass, lebt in einem Wohnprojekt und holt seinen Schulabschluss nach. Später möchte er Flugbegleiter werden. Auch wenn er zu seiner Familie keinen Kontakt mehr hat, sagt er, er sei so glücklich wie noch nie. Viele hätten ihm nach seinem Gang an die Öffentlichkeit ihre eigenen Geschichten geschrieben, um seinen Rat gebeten. „Ich empfehle dann immer, sich an den Lesben- und Schwulenverband zu wenden, die unterstützen einen“, sagt Nasser. Für den den dritten Jahrestag seines Coming-Outs im Oktober hat er bereits in Berlin eine Demonstration gegen Homophobie geplant. Klaus Wowereit hat schon zugesagt. Der Prozess gegen seine Eltern ist bis dahin hoffentlich gut ausgegangen.

Text: charlotte-haunhorst - Fotos: kellekipp / photocase.de

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