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Was war eigentlich in meinem Zuhause, bevor es mein Zuhause wurde?

Illustration: Katharina Bitzl

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Der Puff

Das Haus, in dem ich wohne, steht zwischen zwei Eisenbahnbrücken und ist mittelmäßig gepflegt. Im Erdgeschoss ist eine Kneipe – nicht unbedingt Heidelbergs feinste, aber auch keine Spelunke. Ich war daher einigermaßen überrascht, als ich von der pikanten Vergangenheit des Hauses erfuhr.

Das passierte unvermittelt. Ich stand mit meinem Vermieter im Flur meiner Wohnung. Er hatte gerade irgendwas repariert. Darüber kamen wir ins Gespräch und ich machte mich eher beiläufig über die Zimmeraufteilung in der Wohnung lustig. „Haja...“, hat mein Vermieter da gesagt und gelacht, „das war halt mal ein Puff!“ Wie diese Nutzung den Grundriss meiner Wohnung erklärt, habe ich zwar nicht verstanden, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass in meinem Zimmer nicht der Empfang war und auch nicht die Bar. Ich kann also davon ausgehen, dass da, wo ich heute schlafe, ganz ordentlich Dienst geleistet wurde.

Auf ähnliche Weise erfuhr ich wenig später, dass mein Vorvormieter ein Junkie war, der sich irgendwann auf meinem Dielenboden den goldenen Schuss setzte, und dass auch die Kneipe im Erdgeschoss dem Drogendezernat bekannt war. Kurz: Mein Haus war mal Freudenhaus, Heidelbergs Drogenumschlagplatz Nummer Eins und Treffpunkt der dubiosesten Bikerclubs im Umland. Im Erdgeschoss wurde Business gemacht und in meinem Zimmer entspannt, wenn nicht gerade Razzia war.

Mittlerweile wohne ich seit mehr als drei Jahren in der Wohnung. Ab und zu klingeln noch verirrte Seelen, die ihr Anliegen nicht recht erläutern können. Alteingesessenen Heidelbergern schaudert es beim Klang meiner Adresse ein bisschen. Aber in den meisten Wohnungen leben jetzt Student*innen, das mit den Drogen ist viel besser geworden und auch die Polizei rückt nur noch selten an.

Piet van Riesenbeck

Die Besetzer*innen

Spätestens als Bastian Schweinsteiger mein Nachbar wurde, wollte ich weg. Wenn man wie ich am Gärtnerplatz in München aufgewachsen ist und erlebt, wie alles um einen herum schicker und teurer wird, sehnt man sich irgendwann nach unsanierten Altbauten und ranzigen Dönerläden.

Ich zog nach Berlin. Auch hier wird vieles schicker und teurer. Aber nicht in meiner Straße. Hier ist der Straßenstrich. Der große Altbau mit idyllischem Hinterhof, in dem ich wohne, ist trotzdem schön. Dass das Haus eine besondere Vergangenheit hat, spürte ich schon bei meinem ersten Besuch. Im Treppenhaus und im obersten Stockwerk hängen Fotos aus vergangenen Tagen. Auf einem sieht man eine Gruppe Demonstrant*innen nackt durch eine Straße in Berlin rennen.

Das Haus wurde 1981 von einer Gruppe Student*innen besetzt. Damals gehörte das Gebäude dem Deutschen Gewerkschaftsbund und war unbewohnbar. Nach zähen Verhandlungen konnten die Besetzer*innen einen Mietvertrag mit der Stadt aushandeln. Von den ehemaligen Besetzer*innen leben heute noch fünf im Haus. Eine von ihnen ist meine Mitbewohnerin. Mit ihr und ihrem 20-jährigen Sohn teile ich eine WG.

Meine Wohnung ist Teil einer alternativen Hausgemeinschaft. Im obersten Stockwerk ist ein Gemeinschaftsraum, inklusive Kicker, Tischtennisplatte und Dachterrasse. Früher wurden hier oft Partys gefeiert, heute ist unter der Woche ab 23 Uhr Nachtruhe. Auch Hausbesetzer*innen werden älter.

Das Aktivist*innen-Erbe ist den Besetzer*innen aber immer noch bewusst. Schließlich wurde das Haus auch aus politischen Motiven besetzt – gegen den zunehmenden Mietpreisanstieg bei gleichzeitigem Häuserleerstand. Wenn sich die Hausbewohner*innen einmal im Monat zum Plenum zusammensetzen, fliegen die Fetzen, kommen alte Grabenkämpfe zum Vorschein, diskutieren neue, junge Hausbewohner*innen mit den älteren. In solchen Momenten erkenne ich sie wieder, die jungen Demonstrant*innen, die nackt durch die Straßen Berlins rennen und für ein besseres Wohnen demonstrieren.

Alexander Gutsfeld

Das Party-Eldorado

So genau habe ich bis heute nicht rausgefunden, wie alt Paula ist. Mindestens über 80, schätze ich. Das habe ich mir zusammengerechnet. Nachhaken kann ich nicht, eine Dame wie Paula fragt man nicht nach ihrem Alter. Was ich aber weiß: Paula lebt seit 1952 in der Wohnung unter uns. Sie hat sie sich mit ihrem Mann ausgesucht, als unser Haus in der Münchner Theresienstraße noch ein Rohbau war – gegenüber Einöde, drumherum zerbombte Trümmer. Paula ist gelernte Schneiderin, hatte ein eigenes Mode-Atelier an der Oper, ihr Mann starb früh. Selten habe ich eine so kluge und emanzipierte Frau getroffen. Ich würde noch mehr über Paula erzählen, aber es geht ja um meine Wohnung: fünfter Stock, vier Zimmer, riesiger Südbalkon, saniert. Als wir eingezogen sind, wunderte ich mich über das hellblau gestrichene Stein-Fensterbrett im Schlafzimmer, die bunten Mosaikfliesen am Balkon und die fensterlose Kammer, die irgendwann ein stattliches Ankleidezimmer gewesen sein muss – man sieht noch die Regalschatten an der Wand.

Seit ich mit Paula ein Piccolöchen getrunken habe, weiß ich, dass unsere Wohnung in den späten Fünfzigern ein Party-Eldorado gewesen sein muss. Die Familie Münzinger vom berühmten Sporthaus am Marienplatz soll hier gewohnt haben. Die Hausherrin war angeblich Amerikanerin, trug Pfennigabsätze und hatte eine Vorliebe für schrille Farben. Sie brachte die neusten Deko- und Kleidungstrends in die tief bayerische Theresienstraße. Die Leute liebten es. Kunterbunt soll unsere Wohnung gewesen sein: pinke Schranktüren, hellgrüne Simse, zitronengelbe Türknäufe. Sagt Paula. Und immer war was los. Bis die Herrschaften nach Grünwald in eine Villa zogen.

Ob die Münzingers wirklich hier gewohnt haben, weiß ich nicht. Deshalb der Konjunktiv. Ich habe versucht, die Nachkommen zu finden. Die stehen natürlich nicht im Telefonbuch, das Sporthaus ist längst verkauft. Macht aber nichts. Ich finde die Vorstellung, dass hier vor mehr als 50 Jahren eine Art privates Studio 54 untergebracht war, hervorragend. Und ich hätte gerne mit der Paula von damals gefeiert.

Michèle Loetzner  

Der Mörder

Geklingelt habe ich dann doch nicht. Wäre ja doch nur eines dieser schnell ins Verlegene rutschenden Gespräche gewesen. „Ach, Sie wohnen jetzt hier, ja, ich früher auch, wussten Sie eigentlich...“ Nee. Lieber nur durch das Glasfenster der Haustür gucken. Diese steile Holztreppe. Und der gleiche Gedanke wie damals: Wie oft ich wohl die Stufen zu meiner Wohnung in den zweiten Stock hochgelaufen bin? 1 000 Mal? 10 000 Mal? Und die vier Frauen nur einmal. Nur einmal, dafür ganz nach oben. Und nie wieder zurück.

Ganz oben lebte Fritz Honka. „Der Frauenmörder von St. Pauli“. Obwohl hier Hamburg-Ottensen ist. Das niedliche Ottensen, dieses Dorf mitten in der Großstadt, in das sich so viele verlieben, dass die Preise dauernd ansteigen. Ich ja auch damals. Was für ein Glück, die Wohnung zu bekommen! Von Frauenleichen hat die Maklerin natürlich nichts gesagt.

Ein Jahr später „Zeißstraße“ gegoogelt. Erstes Ergebnis: „Fritz Honka“ bei Wikipedia. „...1967 zog er in die Zeißstraße Nr. 74 in Hamburg-Ottensen“. Meine Adresse. Puh. Fritz Honka, nie gehört. 1975 kannte den wohl jeder in Deutschland. Im Internet kann man noch alles nachvollziehen. Vergewaltigung, Erdrosseln, Zersägen. Zwischendurch ein Aufatmen: Honka wohnte in der Mansarde, zwei Etagen über mir. Da hat er die Frauen hineingelockt und ermordet. Die Leichenteile nebenan auf dem Dachboden versteckt. Jetzt ist das alles eine Wohnung. Wissen die Mieter*innen das? Soll ich denen das sagen? Kenne sie ja nicht, man macht das ja nicht mehr, dass man sich vorstellt.

Und ich, habe ich mich anders gefühlt? Eigentlich nicht, auch keine Alpträume oder so. Das Schrecklichste: dass niemand im Haus etwas mitbekommen hat. Die Leichenteile auf dem Dachboden hätte niemand gefunden, hätte es kein Feuer gegeben. Jahre lagen die da. Einfach so.

Ein halbes Jahr habe ich noch dort gewohnt und es weiter gemocht. Nach dem Einzug in meine Berliner Wohnung dann an jeder Tür geklingelt und die Nachbar*innen begrüßt. Alle haben sich gefreut.

Constantin Wißmann

Die Helfer

Sie hat drei Zimmer, ist ein Altbau, spottgünstig und liegt mitten im noblen München-Neuhausen. Meine Freundin und ich sind im Herbst eingezogen. Wir waren überwältigt von unserem Wohnungsglück, wir redeten von fast nichts anderem.

Unsere Vermieter sind großartig. Sie gehen pro Woche auf mehr politische Diskussionsveranstaltungen als ich in einem Jahr, haben zu jedem Thema eine Meinung und sagen, dass sie mit dem Vermieten wenig Profit machen wollen, solange sie von ihrer Rente leben können. Anfang der 90er Jahre lebten sie in unserer Wohnung. Damals löste der Jugoslawienkrieg ähnlich steigende Flüchtlingszahlen aus wie heute. 1992 riefen die SPD und andere die Bürger*innen mit der Aktion „Den Winter überleben“ dazu auf, bosnische Flüchtlinge bei sich Zuhause aufzunehmen. Unsere Vermieter überlegten nicht lange: Sie sagten zu.

Anfangs kam aus Bosnien nur Aisha mit ihren zwei kleinen Kindern zu ihnen, bald holte sie ihren Mann nach. Wie in einer WG lebten unsere Vermieter, Aisha und ihre Familie zusammen. Und zwar unglaubliche neun Jahre lang. Heute ist einer der Söhne der Familie Ingenieur bei BMW in München, der andere ist zurück nach Bosnien gegangen. Unsere Vermieter sind immer mal wieder dorthin gereist. Und wir, meine Freundin und ich?

Mitte Oktober radelte ich das erste Mal von unserer neuen Wohnung aus zur Münchner Bayernkaserne, wo tausende neuankommende Flüchtlinge unter schlicht katastrophalen Bedingungen untergebracht waren. Teilweise übernachteten sie vor den Baracken auf dem Erdboden, in dünne Decken gehüllt. Ich beschloss, mich beim Bayerischen Flüchtlingsrat zu melden, um irgendwie zu helfen, zumindest, wenigstens. Aber abends, in unserer Wohnung, wenn ich das prächtige alte Fischgrätparkett anschaue, denke ich, dass man offensichtlich noch viel mehr ausrichten kann, wenn man nur will. Die Wohnung macht mir dann ein schlechtes Gewissen. Und solange mitten in einer Stadt wie München von der Staatsregierung verordnete Lagerpflicht herrscht und Flüchtlinge in Decken auf dem Boden schlafen müssen, solange können wir alle noch viel, viel mehr schlechtes Gewissen gebrauchen.

Florian Kessler  

Der Ehebruch

Ein absoluter Glücksfall: Der künftige Schwager meines Mitbewohners gab die Wohnung auf, die er mit seiner Ex-Frau in spe geteilt hatte. Perfekte Lage im Münchner Glockenbachviertel, geringe Miete und netter Kontakt zum Vermieter.

Auszug und Einzug fielen auf denselben Tag. Schwager Jürgen warf klein gehackte Bretter auf die Ladefläche seines Wagens, als wir ankamen. Bei dem Kleinholz handelte es sich um sein Bett. „Das will ich verbrennen. Nur Mist ist passiert hier“, murrte er. An der Decke eines Zimmers war ein großer Haken befestigt. „Da hing so ein freischwebender Sixties-Sessel dran. Den kriegt man kaum raus, bombenfest das Ding, sorry“, sagte Jürgen und verließ die Wohnung ohne jegliche Sentimentalität.

Ein halbes Jahr später, an einem Abend im März, war ich auf einem Geburtstag eingeladen und rief bei der Mutter meiner vierjährigen Tochter an. Sie sagte, sie sei auch eingeladen, ihre Schwester Kathrin könne aber unsere Tochter übernehmen.

Eine halbe Stunde später klingelte es. Meine Tochter sprang Kathrin an den Hals. Aber die setzte sie direkt wieder ab und drehte sich im Kreis, mit offenem Mund die Wände und Türen anstarrend. „Ich war hier schon mal. Das kann ja nicht sein!“ Sie betrat mein Zimmer. „War das mal ein Schlafzimmer?“, fragte sie. Ich bejahte, hier hatte Schwager Jürgen sein Bett kleingehackt. „JÜRGEN! Das ist seine Wohnung!“ rief Kathrin. Sie sah den Haken an der Decke. „Hier hing die Schaukel!“ „Wer ist Jürgen? Wo hing die Schaukel?“, fragte meine Tochter.

Kathrin erzählte mir, dass sie wohl maßgeblich am Scheitern von Jürgens erster Ehe beteiligt gewesen sei. Auf der Schaukel. Und in dem Bett, von dem nun nur noch ein Haufen Asche übrig ist. Nur der große Haken in der Decke, der sitzt bis heute bombenfest.

Benjamin Resch

Dieser Text wurde zum ersten Mal am 12.01.2015 veröffentlicht und am 14.06.2020 noch einmal aktualisiert.

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