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Einsam wacht

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Kunstakademie

1.03 Uhr: Eine Bekannte, die lange an der Kunstakademie studiert hat, meinte einmal, dass die Akademie eigentlich ein öffentliches Irrenhaus sei: Alles erlaubt, weil alles Kunst. Einerseits total schön, andererseits total gefährlich. Weil man nach und nach mit der Welt da draußen immer weniger anfangen könne. Man merkt das schon auch, wenn man durch die Akademie geht. Hier ist offiziell um 19 Uhr geschlossen. Tatsächlich gehört den Studenten ihr Narrenschiff 24/7. Im Foyer ist noch die Ausstellung von Robert Frank zu sehen, Zeitungsseiten, auf denen die Werke abgedruckt waren, einfach an die Wände gekleistert.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Für immer Abhängen: Die Kunstakademie

Passt zum Rest der Akademie, wo auch überall was an die Wände, auf den Boden, in den Aufzug geschmiert ist. Unten im Erdgeschoss wird gefeiert – im „Salong“, einer Art wöchentliche Bar – und der Flur ist durchzogen von Rauchschwaden. Musik, Gläserklirren, rotes Licht, überall Krimskrams, überall liegende Künstler und Freunde. Oben im Erdgeschoss ist es leerer, ruhiger, aber hinter fast jeder Ateliertür brennt Licht. Aus einer kommt eine Malerin. Sie trägt weite Hosen voller Farbflecken. In dem Atelier, in dem sie arbeitet, malen noch drei andere. Eine große, dunkelhaarige Frau mit riesigen Kopfhörern zum Beispiel. Sie könne nur nachts arbeiten, wenn draußen Ruhe ist und niemand was von ihr will. Und mehr will sie nicht erzählen. „Ich möchte keine Reportage über mich“, sagt sie und setzt die Kopfhörer wieder auf. Von hier wieder raus in die echte Welt zu gehen, tut immer ein bisschen weh.
 

Zentralbibliothek der Hochschule München

23.55 Uhr: Aus den Gullis vor der Bibliothek steigt Dampf auf. Das Gebäude selbst liegt beinahe grell erleuchtet da, die Front ist fast vollständig gläsern. Drinnen riecht es nach Burrito und Mülleimer. Im Foyer, neben surrenden Cola-Automaten und einer grünen Gummipalme, lernen zwei Jungs über vielen Büchern und karierten Zetteln, ein Kinderspielbereich liegt verlassen um die Ecke. Über die Wendeltreppe hoch in die Mensa. Weiter Blick über die leeren Tische mit den bunten Stühlen, auf zerknüllte Servietten und leer getrunkene Spezi-Flaschen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Und über allem das Surren der Cola-Automaten: In der Zentralbibliothek der Hochschule München

Ganz hinten im Raum sitzt Ömer, er ist 29 und studiert Maschinenbau. „Schwer ist’s“, sagt er, ihm fehlten Grundlagen, die er als Hauptschüler nicht gelernt hat. Nach dem Abschluss hat er eine Ausbildung zum Gas- und Wasser-Installateur gemacht, schließlich seinen Meister und dann konnte er endlich studieren. Er arbeitet auch jetzt noch in seinem gelernten Beruf. Tagsüber. So, dass er es nebenbei gerade noch in die wichtigsten Vorlesungen schafft. Zum Lernen bleibt ihm nur die Nacht. Hier hinten in der Mensa sei ein guter Platz, findet er. Unkompliziert, man hat die Übersicht und kann sich ausbreiten. Nach Hause fährt er von hier eine knappe Dreiviertelstunde – mit Nachttram und Nachtbussen nach Laim. Oft holt er sich auf dem Heimweg am Stachus noch etwas zu essen. Am nächsten Morgen um acht geht es dann wieder los.
 
Eine Etage höher, in der Bibliothek, riecht es nach Schweiß und Socken. In einem abgetrennten Gruppenraum sitzen noch fünf Schüler: vier Jungs, ein Mädchen. Sie gehen alle auf dieselbe FOS, morgen steht eine Wirtschaftsklausur an. Aber auch sonst lernen sie gern hier. Und gern spät. Einer von ihnen ist immer da, darauf kann man sich verlassen. Warum hier und nicht zu Hause? „Da geht nix: Zu Hause sitz ich ’ne halbe Stunde und guck aus dem Fenster, dann guck ich ’ne halbe Stunde die Lampe an“, sagt einer der Jungs.
 

Technische Universität

0.05 Uhr: In der Holzwerkstatt der TU muss gerade ein Stadtviertelentwurf gelasert werden. Der Laser brennt schwarze Formen in dicke Pappe, es riecht verkokelt. Jana lehnt an dem Gerät und folgt der grellen, gelben Flamme mit den Augen. Sie studiert im siebten Semester Architektur. Und sie sagt etwas, das später ein Erstsemester der Architektur etwa im selben Wortlaut wiederholen wird: „Wenn du Architektur studierst, kannst du dir das Schlafen abschminken.“ Heute hofft sie, vor halb vier nach Hause zu kommen. Manchmal lebt sie fast in der TU: Sie isst, trinkt, schläft hier. Hoch in den weißen Saal sollten wir mal gehen, sagt sie, da sei es toll. „Dürfen aber nur Erstis rein.“
 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Nur noch kurz 'ne Treppe entwerfen bis die Sonne wieder aufgeht: Im Weißen Saal auf dem Dach der TU.

Durch die langen, weißen Gänge also und vorbei an all den Schaukästen über Geodäsie (Erdvermessung), Architektur, Elektrotechnik, immer weiter nach oben. Einsam ist es hier. Viel Platz. Irgendwann fährt tatsächlich jemand mit dem Fahrrad an uns vorbei. Auf dem Dach führt eine Gipsspur von der völlig eingesauten Toilette in den weißen Saal. In den hohen Raum ist eine Galerie eingezogen. Oben ausgelegene, weiße Couchen, Hängematten. Unten lauter Tische. Ansonsten ein riesiges Chaos. Überall Gipsreste, zerrissene Zettel, leere Take-away-Tüten und Pizzakartons, Kleber, Sticker, Verpackungen, Saftboxen.

Leonhard, 19, ist der einzige, der hier heute Nacht noch sitzt. Grad vor ein paar Tagen gab es eine große Abgabe, die meisten machen jetzt mal ein bisschen frei. Leonhard muss noch ein Modell für eine Treppe bauen und gerade läuft es so gut. „Ist schon okay mit den vielen Aufgaben“, sagt er. So sei es halt als Architekt. Und es gebe hier ja alles, was man braucht: Sofas, einen Kühlschrank mit Spezi und Bier, und morgens kann man als Student im Café Vorhoelzer nach durchgearbeiteter Nacht bis 11 Uhr umsonst Kaffee trinken. Nachts ist immerhin noch die Terrasse offen. Vielleicht der beste Ort der Stadt für eine kleine Arbeitspause, egal zu welcher Uhrzeit.
 

Staatsbibliothek

23.15 Uhr: Auf der riesigen Treppe, die hinauf in den „Allgemeinen Lesesaal“ führt, werden die Menschen klein und kaum greifbar. Nachts verstärkt sich das noch.
 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Alles müd und in sich versunken: Im Allgemeinen Lesesaal der Staatsbibliothek.

Wir dürfen im Lesesaal nur auf dem sogenannten „Catwalk“ Fotos machen – sogar die Pressesprecherin der Bibliothek nennt ihn so. Stimmt, fällt einem da wieder ein, die Stabi ist ja dieser angebliche Flirt-Ort. Sehen und gesehen werden. Zumindest nachts scheint das nicht zu gelten. Alle sind tief in ihre Arbeit versunken. Andere lebende Wesen? Interessieren hier niemanden. Ein Paar gleich am Eingang trägt schwarze Kostüme: sie einen großen Hut und ein enges, korsetthaftes Kleid, er ist im Frack da. Wer sind die? Schauspieler, die gleich irgendwo auftreten? Einfach nur Freaks?
 
Das Fragen verbietet sich hier leider. Die kleinsten Geräusche wirken hier gleich sehr laut: das Schlagen von Buchrücken auf Tische, das Hin- und Herrutschen von Stoff auf Stühlen. Jemand fährt sich durchs Haar, stöhnt leise, atmet aus, der Deckel eines Stifts rollt über den Schreibtisch, Rascheln, Blättern, Knistern von Papier, dumpfe Schritte auf dem Teppichboden. Irgendwo fällt ein Buch auf den Boden, steckt jemand einen Stecker in seinen Laptop, tippt jemand was auf der Tastatur. Wasserflaschen knacken. Es ist, als trügen alle eine Glasglocke um ihren Kopf. Als bemerke niemand den anderen.
 
Oben auf der Galerie schläft ein alter Mann. Sein Kopf ist auf den Brustkorb gesunken. Die Seiten des Buches, das vor ihm liegt, stehen in die Luft ab. Ein anderer älterer Herr sieht sich Röntgenaufnahmen von Lungenflügeln an. Einer guckt auf seinem Laptop Fußball – komisches, stummes Rasenballett. In den Fenstern spiegelt sich die Bibliothek bis in die Ferne weiter. Ein Draußen gibt es nicht. Bis die erste Durchsage kommt, dass die Bibliothek bald schließt. Da fangen unten im Hof die Krähen an zu schreien, und sie hören auch nicht mehr auf, bis es zwölf ist.
 
„Es kommen oft dieselben Menschen abends“, erzählt der Pförtner später. „Und die alten Männer schlafen oft ein. Aber sie haben eine innere Uhr und wachen immer genau dann auf, wenn man sie wecken will.“ Heute sei ein ungewöhnlich ruhiger Abend, sagt der Mann auch. Eigentlich sei gerade in Winternächten viel mehr los. Als die letzte Durchsage ertönt beginnt das große Erheben und die Menschen sehen wie ferngesteuert aus, wenn sie zu ihren Schließfächern gehen: starrer Blick nach vorn oder auf die eigenen Schuhe. Das Türaufhalten wirkt mechanisch. Jacke, Schal, Mütze an. Und raus, aus den großen, schweren Toren in die Nacht.
 

Musikhochschule

23.58 Uhr: Die Türen der Musikhochschule sind mit Schildern beklebt: „Zugang nur für Hochschulangehörige.“ Wegen der Touristen. Die Musiker sind im ehemaligen Führerbau der NSDAP untergebracht. Da kommen viele Menschen, die nur mal kurz Hitlers altes Arbeitszimmer sehen wollen. Drinnen hat gerade das Adventssingen stattgefunden, so etwas gibt es oft hier: öffentliche Musikvorspiele. Außerdem darf hier bis ein Uhr nachts geübt werden. In Wohnhäusern geht das schließlich nicht.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Hinter zwei dunklen Türen klingt noch ein Flügel: Die Musikhochschule.

In dem Gebäude ist also überall Musik, und es lässt sich nie ganz verorten, wo sie genau herkommt. Nur die Radio-Meldungen von B5-Aktuell, die sich darunter mischen, klingen klar und deutlich aus dem Pförtnerhäuschen: „Der Mörder stach mit einem Messer zu. Nach Polizeiberichten . . . “ Irgendwo fiedelt eine einsame Geige. Im „Großen Saal“ werden Tonaufnahmen gemacht, Eintritt verboten.
 
Dann endlich ein Mensch. Ein Mädchen tritt aus einer der vielen schweren Holztüren. Jeder, der nachts hierher kommt, um zu üben, bekommt beim Pförtner einen Schlüssel für eines der Zimmer. Nie dasselbe. Drinnen stehen meist ein Flügel und ein Sofa. Tagsüber wird in diesen Räumen unterrichtet. Das Mädchen heißt Kunwha und kommt aus Korea. Viel mehr will sie nicht reden. Lieber Geige üben.
 
Also weiter. Der Garderobenbereich dient nachts als Gemeinschaftsraum. Hier stehen Automaten, bei denen aus ein und demselben Schlauch Fünf-Minuten-Terrine und Kaffee kommt. Arcan steht auch da. Er studiert Komposition, eigentlich in Ankara, aber jetzt ist er für einige Semester hier. Er führt uns in seinen Raum. Neben dem Klavier steht der Laptop, mit dem er aufnimmt. Und dann fängt er an zu spielen – wunderschöne Klavier-Pattern, feine Dramatik. Könnte zu einer Filmszene gehören. Es fällt schwer, zu gehen.

Text: mercedes-lauenstein - Fotos: juri-gottschall

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