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"Es geht immer nur um dieses öde Regime"

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Viktor Martinovitsch ist 36 Jahre alt und gehört zu den bekanntesten Schriftstellern Weißrusslands, das seit 1994 von dem autokratischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenko regiert wird. Drei Romane hat er bereits veröffentlicht, außerdem ist er stellvertretender Chefredakteur der Zeitung BelGazeta und schreibt Beiträge für Blogs über kulturelle Themen. Sein Debütroman "Paranoia", der 2009 in Belarus erschien, wurde von der New York Times hoch gelobt. Nun wird die Geschichte um eine junge Liebe in einer Geheimdienstdiktatur auf Deutsch veröffentlicht.    

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Endlich erscheint dein Roman "Paranoia" auf Deutsch. Paranoia ist ja auch etwas, was viele in Deiner Heimat erleben, die seit 1994 von Präsident Lukaschenko regiert wird.  
Viktor Martinovitsch: Moment. In dem Buch geht es nicht um Lukaschenko und sein Regime, sondern um eine Liebesgeschichte in einer fiktionalen Welt.  

Aber die Welt im Buch ist der von Weißrussland sehr ähnlich. Es gibt die Geheimpolizei, den Diktator. Auch Minsk, die Hauptstadt, lässt sich identifizieren. Zudem wurde das Buch bei Erscheinen aus den staatlichen Buchläden entfernt.  
Ja. Dennoch ist es Fiktion. Für die deutsche Übersetzung habe ich den Text nochmals überarbeit, damit keine Missverständnisse entstehen können. Wenn man die Geschichte nur als eine Art politischen Thriller liest, der in einer osteuropäischen Diktatur spielt, ist das dumm und man vernachlässigt die wichtigen Dinge, die ich mit dem Buch sagen wollte.  

Und die wären?  
Es geht um die Rahmenbedingungen, in denen einen junge Frau, die die Geliebte des Diktators im Buch ist, und ein junger Schriftsteller ihre Liebe erleben. Es ist eine unmögliche Liebe, in der beide getestet werden. Stellen Sie sich eine Romeo-und-Julia-Geschichte vor, die in der Hölle einer postsowjetischen KGB-Welt spielt. Ich wollte zeigen, was aus Menschen unter solchen Lebensbedingungen wird, wie sie agieren und reagieren - und ob so eine Liebe unter solchen Bedingungen funktionieren kann.

Aber was du beschreibst, existiert doch auch in ähnlicher Form in Weißrussland. In der Vergangenheit hast du viele Interviews gegeben, in denen du die Mechanismen der Paranoia in Weißrussland erklärt hast.  
Fiktion kann uns in einer viel komplexeren Art und Weise etwas erklären, weil man mit Fiktion Allgemeingültiges beschreiben kann. Vor ein paar Jahren war ich noch naiv genug, um meinen Stoff als Literat mit meinen Erkenntnissen über Weißrussland zu vermischen. Damit habe ich eine Verbindung zwischen Text und Realität hergestellt, die nicht funktioniert. Es nervt mich einfach, dass wir von Medien aus dem Westen immer als ein Schwarz-Weiß-Ereignis gesehen werden, das zwischen einem Aufstand in Zimbabwe und dem Krieg in Libyen verortet ist. Das verhindert, dass man sich wirklich für die Kunst und Literatur, die bei uns gemacht wird, interessiert. Es geht immer nur um dieses öde Regime.  

Das immerhin den Alltag der Weißrussen kontrolliert...  
Vielleicht verkompliziere ich das Ganze auch. Aber es nervt mich wirklich. Mich interessiert es einen Scheiß, was die Leute über Lukaschenko denken und warum sie Angst vor ihm haben. Angst entsteht ohnehin nur in unserem Gehirn, im Unterbewusstsein – als Angst vor Krankheiten, vor dem Alter, vor dem Tod. In meiner Geschichte bringt die Paranoia den jungen Schriftsteller dazu, sich selbst davon zu überzeugen, einen Mord verübt zu haben, den er gar nicht begangen hat. Und das kann in Weißrussland passieren. Aber eben auch in anderen autokratischen Systemen.  

In den vergangenen Jahren haben viele Cafés und Bars in Minsk aufgemacht, die von jungen Hipstern bevölkert werden. Wenn man mit denen über Politik reden möchte, bekommt man oft die Antwort, dass Politik "nicht modisch" sei. Auch eine Folge der Lukaschenkoschen Erziehung, mit der er den Leuten beibringt, sich von der Politik fernzuhalten?  
Das stimmt. Politik und der Lebensstil von Hipstern passen in Weißrussland nicht wirklich zusammen. Anders als in Russland, wo die Proteste vor zwei Jahren von Hipstern organisiert wurden. In Russland wurde es modisch, politisch aktiv zu sein. Bis zu dem Punkt, als der Aktivist Navalny verhaftet wurde. Bei uns hat sich das anders entwickelt. Wir hatten 2006 unsere Zeit, als wir auf dem Oktoberplatz in Minsk gegen das Regime demonstrierten. Da waren wir zu allem bereit. Aber unsere damalige oppositionelle Führung hat uns verraten. Seitdem befinden wir uns in einer Art Hangover. Viele investieren ihre Energie lieber in andere Projekte, andere sind ins Ausland gegangen.  

Klingt sehr frustrierend.  
So ist es halt. Stell Dir ein Land vor, in dem der Herrscher seit 20 Jahren ein und derselbe ist. Alles scheint festgefahren zu sein. Alle Versuche, die Bevölkerung aufzurütteln, führen zu keiner Reaktion in der Gesellschaft. Gleichzeitig werden alle Versuche des Widerstands hart bestraft. Hättest du Lust, dich in so einer Situation zu engagieren? Man kann die Situation im heutigen Weißrussland mit der späten Sowjetunion vergleichen, als die Leute auch derart passiv waren. Außerdem ist das Leben zu schön, um ständig mit Kampf beschäftigt zu sein.  

Wie reagieren die Weißrussen denn auf die Krise in der Ukraine?  
Ein Teil der Bevölkerung unterstützt Kiew, ein anderer Teil ist für Russland. Unsere Intellektuellen vergleichen unsere Identität gern mit der der Leute auf der Krim, die ja von Russland annektiert wurde. Die Leute dort sprechen vor allem Russisch, sie erinnern sich gern an die sowjetischen Heldentaten im Zweiten Weltkrieg und sind stolz auf die Sowjet-Mythologie. Bei uns ist das auch so. Deswegen: Wenn Putin will, dann wird Weißrussland morgen ein Teil Russlands sein. Man schaue sich an, was mit der Ukraine passiert. Seien wir ehrlich: Das interessiert doch kein Schwein. Für mich ist das ein Verrat an den europäischen Werten. Der europäische Traum wird von Ignoranz und Gleichgültigkeit zerstört.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Viktor Martinovitsch: Paranoia, 400 Seiten, Voland & Quist, 24,90. Aus dem Russischen von Thomas Weiler.

Text: ingo-petz - Bild1: Alina Krushynskaya, Bild2: oh

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