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Der große Graben

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Nimm dir Zeit für einen Milchkaffee im "Le Kiosk", frag die Kunden, und du verstehst das Problem am Brüsseler Platz. Sprich mit Dieter, der seit 25 Jahren hier wohnt, Lederjacke und schulterlange Haare. Stammkunde, Espresso morgens um neun. Er gibt dem "Egoismus der jungen Leute" die Schuld an dem ganzen Stress, dem Lärm, dem Müll. "Weil die meinen, der Platz gehöre ihnen wie überhaupt die ganze Welt."

Sprich mit Jörg, Regisseur und Theaterpädagoge, der seit fast 20 Jahren hier wohnt. Der beim Morgenkaffee erzählt, dass es doch das gute Recht der jungen Leute ist, "sich abends mit ’ner Pulle auf den Platz zu stellen". Der sich ärgert, dass die Stadt den Platz privatisiert, indem sie Gastronomen mehr Raum für Tische und Stühle gibt – damit weniger Platz da ist für Leute, die einfach nur mit einem Bier in der Hand herumstehen wollen. Und der sich zu der "schweigenden Mehrheit der Nachbarn" zählt, die mit dem Lärm kein Problem hat.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wo endet das Recht, sich nett zu unterhalten, und wo beginnt das Recht auf Nachtruhe? Auf dem Brüsseler Platz in Köln entbrennt seit Jahren jeden Sommer ein Streit zwischen Anwohnern, Jugendlichen, Gastronomen...

Dann triff Heike Rader, die mit ihrem Mann seit 1997 hier wohnt und das Haus mit dem Kiosk besitzt. Die Raders haben Kinder und einen Hund und ein Schlafzimmer nach hinten raus. Die Familie fühlt sich hier wohl und lebt gerne am Brüsseler Platz.

Seit gut einem Jahr verdienen die Raders daran, vermutlich sogar ganz gut: Sie haben den Kiosk im Erdgeschoss übernommen, was manche ärgert und andere freut. "Le Kiosk" haben sie ihn getauft. Das klingt französisch-chic, denn wir sind hier im Belgischen Viertel, wo die Straßen nach Städten in Belgien benannt sind und kreative Köpfe gerne in lichte Altbauetagen ziehen. Und es klingt nach einem Statement: Le Kiosk – der Kiosk schlechthin.

Le Kiosk ist nur eins von Hunderten Büdchen in Köln, aber ein besonders bekanntes. Klein wie ein Kiosk halt ist, aber doch groß genug, um kastenweise Getränke zu lagern. Zwar hat der Kiosk auch Limo, Säfte und Mate-Eistee im Angebot und brüht Latte Macchiato und Chai Latte – aber der Renner ist kühles Bier, vor allem im Sommer. Dann verkauft es sich so gut, dass manche Anwohner dem Kiosk die Schuld an der größten und längsten und lautesten Open-Air-Party der Stadt geben.

Tagsüber ist auf dem Platz eher wenig los: Vor der Kirche spielen Kinder. "Lena-Caroline", fragt ein Vater mit Bartansatz, "rutschen oder mit Mama zum Yoga"? Ein Taxistand, dazwischen Blumenbeete, Bäume, Bänke – ein kleiner Park vor einer großen Kirche. Drum herum: Das Bio-Restaurant "Guten Abend", die Szene-Bar "Hallmackenreuther" und das Törtchen-Café "Miss Päpki" – alles eher chic, trotzdem bezahlbar.

Soweit, so ruhig. Aber am Rand des Platzes stehen ein Urinal und eine Warntafel der Stadt, die an die Nachtruhe ab 22 Uhr erinnert, Wildpinkeln untersagt und alle Besucher auffordert, den Platz um 24 Uhr zu verlassen. Denn an lauen Sommerabenden sammeln sich die Leute auf dem Platz und schieben sich in langen Schlangen in den Kiosk hinein und wieder hinaus, in den Händen Flaschen.

Niemand hat die lärmenden Menschen eingeladen - wer ist also verantwortlich?


Nachschub für draußen auf dem Platz, wo sie dann zu Hunderten stehen, hocken, sitzen. Lachen, singen, quatschen. Flaschen ploppend öffnen, Flaschen klongend aneinander stoßen, Flaschen klirrend fallen lassen. Und wo dann aus all den Silben, den Lachern, dem Klongen und Klirren ein "Lärmteppich" entsteht, wie Experten es nennen, der sich über den Platz legt und von den Fassaden und Kirchtürmen aufgeplustert wird. Wo es dann im fünften Stock lauter ist als auf dem Platz selbst. Lauter als unten zwischen der Kirche St. Michael, dem Kiosk und dem Taxistand, wo sich für die Leute mit den Flaschen alles einfach nur nach einem netten Abend anfühlt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

...und zwei konkurrierenden Kioskbesitzern.

Leute wie Nuria und Ron, Fabian und Volkan, Konrad und Astin, alle zwischen 15 und 17 Jahren alt. Sie sind abends oft hier, um "zu chillen", weil es halt ein "superkrasser Szeneplatz" ist, wie sie sagen. Heute sitzen sie auf der Bank, gleich vor der Kirche, von wo man den Kiosk sehen kann. Sie mögen den Platz, weil er zentral liegt und trotzdem gemütlich ist – und weil hier eben auch ihre Schulfreunde abends hingehen. Sie können verstehen, dass die Anwohner ihre Ruhe wollen, jedenfalls ab Mitternacht. Aber sie haben kein Verständnis für die Reaktionen mancher Nachbarn: "Wir wurden schon mal um neun Uhr abends mit Gemüse und Eiern beworfen, weil die sich gestört fühlten", sagt Ron Fleisher, der mit Skateboard unterwegs ist. Fragt man ihn, wem der Platz gehört, hat er eine ziemlich treffende Antwort: "Der gehört allen und keinem."

Seit einigen Jahren sorgt die Suche nach Antworten auf solche Fragen für Konflikte: Wem gehört ein öffentlicher Platz eigentlich? Wo endet das Recht, sich abends draußen nett zu unterhalten – und wo fängt das Recht auf Nachtruhe an? Und wen kann man verantwortlich machen, wenn es niemanden gibt, der die Menschen eingeladen hat?

Die Stadt kann diese Frage alleine nicht mehr beantworten. "Der Platz ist öffentliches Straßenland, in Teilen Grünfläche und auch Spielplatz", sagt Robert Kilp, Leiter des Ordnungsamts. Jeder darf sich darauf aufhalten und tun was er möchte, solange er nicht die Rechte anderer verletzt. Aber gegen Herumstehen und Reden kann man eben nichts tun, kein Bußgeld verhängen.

Als "Quelle des Lärmübels" hat die Kölnische Rundschau im Jahr 2012 den Kiosk ausgemacht. Damals betrieb den noch Shirin Shaghaghi. Der für Ordnung zuständige Dezernatschef bei der Stadtverwaltung hat sie einmal als "Mitverursacherin des Lärms" bezeichnet. Shaghaghi hat den Kiosk im Jahr 2005 von Heike und Reinhard Rader gemietet, zu einer Zeit, als der Lärmteppich auf dem Brüsseler Platz noch so dünn war wie eine abgetretene Fußmatte. Auf dem Platz war wenig los, und manche Anwohner fürchteten sich davor, ihn bei Dunkelheit zu überqueren, weil manchmal ein paar halbseidene Gestalten zwischen den Blumenbeeten abhingen und morgens Spritzen neben den Mülleimern lagen.

Dann kam dem Weltjugendtag 2005, bei dem es auf dem Platz vor der Kirche ein Bühnenprogramm gab. Und dann die Fußball-Weltmeisterschaft 2006, die man in den Bars rund um den Platz auf Bildschirmen verfolgen konnte. So entwickelte er sich in den Sommermonaten zum Treffpunkt. Im Jahr 2008 beklagten die ersten Anwohner den Lärm und forderten auf einer Bürgerversammlung die Polizei auf, konsequenter gegen das "Gesocks" einzuschreiten, damit die "guten Bürger" nicht wegziehen. Sie schlugen vor, den Platz ab einer gewissen Zeit zu sperren und den Laden von Shaghaghi durch eine Bürgerinitiative zu übernehmen.

Die Kioskfrau wehrt sich - und die Lokalzeitung schreibt vom "Büdchen des Bösen"


Die Stadt reagierte, wie eine Stadt reagiert, die keine Antwort weiß: Sie schaltete einen Mediator ein. Detlev Wiener, Experte für Konflikte in Unternehmen. Sein offizielles Ziel: "Ermöglichung eines urbanen Lebens auf dem Platz mit möglichst geringen negativen Randerscheinungen". Für den Streitschlichter ist der Brüsseler Platz "ein zugespitzter Eisberg, auf dem alles kumuliert". Menschen mit unterschiedlichen Gewohnheiten und aus verschiedenen Generationen treffen hier aufeinander; manche stehen früh auf, andere spät; für manche fängt der Abend erst an, wenn er für andere schon beendet ist. "Städtebaulich ist das eine riesige Herausforderung", sagt Wiener. Nicht nur in Köln übrigens, sondern in vielen Großstädten. "Es müsste viel mehr solcher Plätze geben, dann würde sich die Lage auf jedem einzelnen entspannen."

Wiener sprach mit Anwohnern, Gastronomen und den Platzbesuchern. Er fand heraus, dass die Besucher im Schnitt 28,7 Jahre alt sind und mehrheitlich aus der näheren Umgebung hierher kommen; jeder Zweite mindestens einmal in der Woche. Wiener startete einen runden Tisch und erarbeitete seitenweise Vorschläge – dennoch änderte sich an der Situation wenig. Die Stadt erließ eine sogenannte Ordnungsverfügung, um den Kiosk dazu zu zwingen, ab 23.30 Uhr keinen Alkohol mehr zu verkaufen. Die Kioskbetreiberin wehrte sich gegen die Schikane – ohne Erfolg. Prompt stempelte die Lokalzeitung ihren Laden zum "Büdchen des Bösen".

Shirin Shaghaghi, die vermeintlich Böse, ist eine 35-jährige Frau, die an Herzlichkeit kaum zu übertreffen ist. Wer sich einen Kaffee lang mit ihr unterhält, über ihren alten Kiosk am Brüsseler Platz und den neuen 250 Meter weiter, der verlässt sie nicht ohne eine Umarmung und den Gedanken, wiederzukommen. "Meine Kioskphilosophie", sagt Shirin Shaghaghi, "ist Liebe."

Manche Anwohner am Brüsseler Platz haben diese Liebe nicht erwidert, sie haben den Kiosk gehasst. Viele ihrer Stammkunden vom Brüsseler Platz wiederum sind der Liebe gefolgt, als die Raders den Mietvertrag im vergangenen Jahr auslaufen ließen und Shaghaghi einen neuen Laden eröffnen musste.

Klaus-Dieter, der Taxifahrer zum Beispiel. Er geht mit geübten Schritten zum Kühlschrank, "Carpe Diem", was zum Wachwerden. Das hat er schon gemacht, als Shirin ihren Kiosk noch am Brüsseler Platz hatte, gleich neben dem Taxistand. Heute fährt Klaus-Dieter eben bei Shirin vorbei. "Shirin, komm mir nicht näher", sagt Ingo und deutet auf seinen Schal, "habt ihr Aspirin?" Nimm Kaffee, sagt Shirin, und umarmt ihn fest. Und Asin sagt gar nichts. Er drückt Shirin einfach einen Kuss auf den Hinterkopf.

Ihre Passion hat Shirin Shaghaghi mit 18 entdeckt. Da stand sie zum ersten Mal hinter einer Büdchentheke. Ihr Chef erklärte ihr, wie man Bestände berechnet und Preise kalkuliert. Was er ihr nicht erklären musste, das war der Umgang mit den Kunden. Shirin Shaghaghi verliebte sich prompt. "Dein Kiosk", sagt sie, "ist dein eigenes Reich." Ein paar Jahre und ein abgebrochenes BWL-Studium später mietete sie den Kiosk am Brüsseler Platz. Ihr alter Chef schenkte ihr Kühlschränke, die Raders machten ihr Mut. Von außen habe es vielleicht so ausgesehen, als ob da eine "kleine Göre" plötzlich viel Geld verdient, sagt Shirin Shaghaghi. "Aber den Kiosk aufzubauen war nicht leicht. Wenn es so aussah, dann nur, weil es mir Spaß gemacht hat."

Vielleicht kann sie deswegen nur so schwer ertragen, was die Raders ihr später zugemutet haben. Sie haben ihren Laden übernommen, als er bestens lief und nachdem sie ihn jahrelang gegen die Stadt und die Kritiker verteidigt hatte. Shirin wirft ihnen außerdem vor, ihre Inneneinrichtung nachgeahmt zu haben – von der Anordnung der Möbel bis zur Marke der Kaffeetasse. Wenn Shirin Shaghaghi von ihren Ex-Vermietern spricht, dann verwandeln sich ihre Emotionen in Wörter, die so voller Ärger sind, dass sie darum bittet, sie nicht zu zitieren.

Es gibt einen "Modus Vivendi", einen Waffenstillstand. Aber jetzt beginnt wieder der Sommer.


Fragt man Heike Rader, warum sie den Laden übernommen hat, dann lacht sie verlegen. Wörtlich zitieren lassen will sie sich nicht. Sie hat Angst, dass der Eindruck entstehen könnte, dass sie den Kiosk "nur aus Geldgeilheit" betreibe, wie sie später in einer E-Mail erklärt. Die Frage nach dem Weshalb lässt sie unbeantwortet: War es Leidenschaft? Oder doch das Geld? War es Opportunismus? Im Gespräch lacht Heike Rader ein wenig, wenn sie von dem Leben auf dem Platz erzählt. Aber sie schaut ernst, wenn sie ankündigt: Natürlich würde sie sich auch gegen die Ordnungsverfügung der Stadt wehren, die ihr einen Verkauf nach Mitternacht untersagt. Dabei wirkt sie so rational wie ihre Vorgängerin emotional ist. Ihre Kioskphilosophie? Sauberkeit.

Im August vergangenen Jahres haben sich die Kritiker mit der Kirchengemeinde, der Stadt und der Polizei vor Gericht auf einen "Modus Vivendi" geeinigt. Einen Kompromiss. Die Kritiker haben ihre Klage zurückgezogen. Dafür hat die Stadt versprochen, dass sich der Platz spätestens um 24 Uhr leert und will Mitarbeiter des Ordnungsamts schicken, die mit Handzetteln dafür sorgen. Zwang geht nicht, das weiß auch Robert Kilp vom Ordnungsamt. Die leeren Flaschen müssen in speziellen "Big Bags" entsorgt werden. Die Polizei will den Platz abends weiter intensiv "bestreifen". Im Kiosk, in einem nahegelegenen Supermarkt und in den anderen Kneipen am Platz darf nur noch in Ausnahmefällen nach 23.30 Uhr Alkohol verkauft werden.

Kioskbetreiberin Heike Rader hat der Einigung zwar grundsätzlich zugestimmt, setzt sich aber gegen die 23.30-Uhr-Regel zur Wehr. Es ist ein Zeichen dafür, dass der Ärger weitergeht, wenn es in diesen Tagen wieder wärmer wird. Die Lokalzeitung warnt bereits davor, dass die Konflikte nun wieder aufbrechen dürften. Im Juli wollen alle Beteiligten einen neuen Termin für ein Gespräch vereinbaren. Shirin Shaghaghi ist froh, dass sie dann nicht mehr dabei ist. Ihre Emotionen hat sie zur Seite gelegt, seit sie von dem Platz weg ist, 250 Meter die Brüsseler Straße runter Richtung Süden. Dort hat sie neu aufgemacht im Frühjahr 2013. "Der neue Laden", sagt sie, "war ein Geschenk von oben."
 
Heike Rader steht mit einem Besen in der Hand vor ihrem Laden und kehrt den Bürgersteig. Für sie ist ihr Kiosk kein Geschenk von oben, er ist halt ihr Geschäft da unten in ihrem Wohnhaus. Früher, da sind sie und Shirin Shaghaghi gut miteinander ausgekommen und haben sich geschätzt, sagen beide. Eigentlich könnten sie Frieden schließen, schließlich hat Shaghaghi ein neues eigenes Reich, und etwas mehr Rationalität und weniger Emotionen täten dem Brüsseler Platz vielleicht gar nicht schlecht.

Wahrscheinlich würden dann auch Ron Fleisher, Astin Krause und ihre Kumpel bei Heike Rader einkaufen. Sie haben ihr bisher nicht verziehen, dass sie den Laden übernommen hat und sogar schon einmal Flyer verteilt, um auf Shirin Shaghaghis neuen Kiosk hinzuweisen. Astin Krause glaubt, dass sich die Lage am Platz nur entspannen wird, wenn jeder in Zukunft Kompromisse macht. Wenn jeder etwas mehr auf den anderen achtet: die Jungen auf die Alten und umgekehrt, die Frühaufsteher auf die Nachteulen und umgekehrt, die Anwohner auf die Besucher von außerhalb und umgekehrt. "Aber ehrlich gesagt könnte das schwer werden", sagt der 15-Jährige, "es ist halt ein Siedetopf: Hier will einfach jeder sein."

Text: jens-toennesmann - Fotos: Fabian Stürtz

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