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Der Krieg erreicht Tom an einem Dienstag im Mai. In Göttingen ist der Frühling noch nicht angebrochen, es regnet in Strömen. Das Semester hat gerade angefangen, Tom studiert Politik und Ethnologie. An diesem Dienstag bekommt Tom eine Nachricht auf Facebook. Sie ist auf Englisch geschrieben, von einem Computer in Homs, Syrien.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Tom Scheunemann, dunkle Locken, Stoppelbart, ist einer jener Menschen, denen das Leben wenig Furcht zugeteilt hat und viel Neugier. Er ist alleine durch Südamerika gereist, studierte ein halbes Jahr im Sudan. Im Februar 2011 fliegt Tom in den Nahen Osten: erst nach Jordanien, dann nach Syrien. In Damaskus übernachtet er als Couchsurfer bei einem Einheimischen. Als Tom nach Homs weiterreist, bietet der ihm einen Schlafplatz bei einem Freund an. Nabil, ein schmächtiger Medizinstudent, holt Tom am Busbahnhof in Homs ab.

Der Ort, die drittgrößte Metropole Syriens, boomt zu dieser Zeit, Neubauten dehnen den Stadtrand. In einem dieser Häuser bewohnt Nabil, der in Wirklichkeit anders heißt, ein Zimmer. Tom schläft auf dem Teppichboden. Tagsüber schlendern er und Nabil durch die Stadt, die Abende verbringen sie in einer Bar. Sie spielen Tischtennis, trinken Bier. Nabils Englisch ist fließend und fehlerfrei. Er hört amerikanischen Rap und bewundert den Westen, wo jeder frei ist und Religion sich nicht in die Privatsphäre der Menschen mischt. Über Persönliches sprechen sie kaum. Sie adden einander bei Facebook und nach drei Tagen macht Tom sich auf den Weg nach Aleppo. Eine Reisebekanntschaft, wie sie jeder Backpacker unterwegs schließt, scheint ihr Ende zu nehmen. Tom denkt nicht, dass er noch mal von Nabil hört.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Als Tom die Nachricht liest, wohnt er gerade in einer Vierer-WG. Sein Zimmer ist geschmückt mit Mitbringseln: Muscheln aus Panama, eine Holzmaske aus Südafrika, Fotos aus Costa Rica, wo seine Freundin an einer deutschen Schule lehrte. Er spielt Handball und kellnert in einer Bar, am Wochenende kocht er mit Freunden indisches Curry.

Zur gleichen Zeit sind am anderen Ende der Welt fünf Millionen Syrer auf der Flucht. Mehr als 70 000 sind ums Leben gekommen. Tom sieht das in der Tagesschau, liest es auf Nachrichtenseiten im Internet. Er denkt an Syrien: An Daraa, wo die Revolution begann und wo Nabils Familie lebt. An Aleppo, das einmal wunderschön war und dessen Fluss nun Leichen anschwemmt. Aber Tom ist auch mit seinem eigenen Leben beschäftigt. Er muss Prüfungen bestehen und Geld verdienen. Von den Artikeln über Syrien bleibt eine flüchtige Beklemmung, aber in Wahrheit ist das Elend weit weg. Bis zu jenem Dienstag im Mai.

Als Tom die Nachricht gelesen hat, sind seine ersten Gedanken: Bin ich stark genug? Und will ich diese Verantwortung tragen? Einen Moment später, sagt Tom heute, habe er gewusst: "Ich muss. Ich kann ein Leben retten."

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Illustration: Julia Schubert



Nabil ist ehrlich: Er will Syrien für immer verlassen und bittet Tom um Hilfe. "Ich hätte Nein sagen können", sagt Tom, "er hätte es verstanden." Aber mit welcher Begründung? Sorry, ich muss studieren?

Göttingen hat eine große linke Szene, Tom wendet sich an die Antifa. Doch die helfen eher Flüchtlingen, die schon in Deutschland sind. Wie man jemanden legal ins Land bringt, wissen sie nicht. Er trifft sich mit einer Anwältin, kontaktiert Behörden. Das Ausländeramt ist nur knapp fünf Stunden pro Woche erreichbar: Montag, Dienstag und Mittwoch, jeweils von 14 Uhr bis 15.30 Uhr. Tom telefoniert zwischen den Vorlesungen.

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Die Informationen, die man Tom gibt, sind widersprüchlich. Anstatt ihm zu erklären, welche Möglichkeiten Nabil hat, schickt man Tom immer weiter: zur nächsten Zuständigkeit, der nächsten Anlaufstelle. Stück für Stück eignet sich Tom das Asylrecht an. Mit jedem Anruf, jeder patzigen Antwort versteht er einen Paragrafen mehr. Er erkennt den einzigen Weg durch dieses Labyrinth der Vorschriften: Nur wer dem Staat nutzt, darf nach Deutschland. Ein Medizinstudent ohne Einkommen, wie Nabil, ergibt eine Verlustrechnung. Ein Touristenvisum zu bekommen, ist damit fast unmöglich.

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Illustration: Julia Schubert



Homs wird "das Herz des syrischen Aufstandes" genannt. Die Front zwischen Rebellen und Assad-Truppen verläuft mitten durch die Stadt. Im Juni 2013 beschießt die Artillerie der syrischen Armee abtrünnige Viertel mit Mörsern und Raketen. Sie trifft auch das Haus, in dem Nabil einst lebte. Der Bezirk steht schon lange leer, die Bewohner sind geflohen. Zurück bleiben durchsiebte Mauern. Die Bar, in der Tom und Nabil vor zwei Jahren Bier tranken, ist verschwunden, die Altstadt ist eine Ruine. Scharfschützen haben in der Stadt Posten bezogen. Die Angeschossenen verbluten in den Straßen.

Nabil hat nur einmal gegen Assad demonstriert: für eine bessere Behandlung der palästinensischen Flüchtlinge. Als die Kämpfe losgingen, floh er in einen Stadtteil, in dem hauptsächlich Assad-Anhänger leben. Deshalb hat er Strom, Wasser und Internet. Aber wie lange noch?

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Tom ruft nun bei Kliniken an und versucht, Nabil einen Praktikumsplatz zu besorgen. Er richtet ein Konto für ihn ein. Schreibt Anfragen an Ärzte und Aktivisten. Mehrere Stunden verbringt er jede Woche damit. Dabei versucht Tom, so nüchtern wie möglich zu bleiben. Die Bürokratie beschäftigt ihn, aber sie schützt ihn auch. Vor der Frage, wer Schuld hat am Leid der Welt. Und warum er, Tom, in einer studentischen Idylle lebt und Nabil in einer zerstörten Stadt. Tom hält sich an seine Aufgabe, aber es gelingt nicht immer, die Distanz zu halten. Dann denkt er daran, Nabil einfach zu holen: mit dem Auto in die Türkei und weiter an die syrische Grenze. "Da ist ein Mensch im Krieg, und ich bin seine einzige Chance", sagt Tom. "Wenn ich scheitere – was dann?"




Tom ist für Nabil Seelsorger und Anwalt zugleich. Er schafft es kaum, den Aufwand zu bewältigen, die Termine, die Formulare, die vielen Nachrichten. Manchmal schreibt Nabil täglich. Ein Konflikt, mehr als 3000 Kilometer entfernt, ist Tom auf einmal ganz nah. Er bemüht sich, im Alltag nicht an Nabil und Syrien zu denken. Er fürchtet, dass er sonst die Uni nicht schafft. Doch der Krieg ist immer bei ihm: Er sitzt ihm im Nacken, wenn er an der Uni büffelt, begleitet ihn durch den Abend, wenn er im "Pools" Cocktails mixt. Tom bekommt Rückenschmerzen, sein Kiefer tut weh, weil er nachts mit den Zähnen knirscht. Der Krieg hat sich in seinem WG-Zimmer eingenistet, er blickt ihm ins Gesicht, sobald er den Computer anschaltet.

Wenn Tom seinen Freunden von Nabil erzählt, erntet er Anerkennung. Sie teilen seine Systemkritik, doch er merkt auch: Die Verantwortung teilen möchten sie nicht. Er kann sie verstehen. "Ich wollte es zwischendurch auch nicht mehr", sagt er. "Ich war so müde." Was ging ihn diese Not im Nahen Osten eigentlich an? Warum ließ er sich davon sein Leben trüben? "Man schämt sich schnell für solche Gedanken." Er macht weiter.
 
Und der Angriff der Amerikaner bleibt aus.

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Nach unzähligen Anrufen und E-Mails findet Nabil ein Krankenhaus, das bereit ist, ihn als Hospitanten aufzunehmen. Tom organisiert einen Sprachkurs und bittet seine Mutter, eine Verpflichtungserklärung zu unterschreiben. Sie willigt auch ein, Nabil für die erste Zeit aufzunehmen.

Tom beginnt, an seiner Bachelor-Arbeit zu schreiben, "Nationalismus in Irakisch-Kurdistan". Nebenbei macht er Dokumente für Nabil fertig, die Anmeldebestätigung für den Sprachkurs, die Bestätigung des Krankenhauses. An Weihnachten schmückt er mit seinen zwei Brüdern den Baum in seinem Elternhaus, sie spielen Scharade, auf Facebook erzählt er Nabil davon.

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Im Januar bekommt Nabil einen Termin in der deutschen Botschaft in Beirut, im Nachbarland Libanon. Man will Nabils Motivation überprüfen. Wer ist dieser Tom, fragt ihn die Sachbearbeiterin. Ein echter Freund, antwortet Nabil. Nach dem Gespräch meldet er sich: Es sei gut gelaufen, er mache sich auf den Weg zurück nach Homs. Nabil will seine Sachen holen, Syrien ein letztes Mal Lebewohl sagen. Viel übrig ist davon ohnehin nicht mehr.

Tom packt währenddessen seine Sachen in Kisten. Sein Studium ist bald zu Ende. Ihm fehlen noch 15 Seiten seiner Bachelor-Arbeit und er fragt sich, welchen Weg er danach einschlagen wird. Arbeiten oder weiter studieren? Er freut sich, seine Zukunft selbst bestimmen zu können.

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Dann, am 16. Januar 2014, nach fast einem Jahr und mehr als 5000 Facebook-Nachrichten, reißt der Kontakt ab. Nabil antwortet nicht auf Mails, das Handy ist aus. Seine Freundin weiß nicht, wo er steckt. Freunde fahren in den Norden, um ihn zu suchen. Am Grenzübergang verliert sich seine Spur. "Ich dachte, es ist vorbei", sagt Tom. "Er liegt irgendwo angeschossen im Straßengraben. Oder er wird gefoltert. Oder er ist tot."

Tom geht noch immer in die Bibliothek und schreibt an seiner Bachelor-Arbeit, aber er kann sich nicht konzentrieren. Einmal bricht er zusammen und weint stundenlang. Tom trauert um einen Menschen, den er kaum kennt. Weil er Nabil nicht helfen konnte. Weil er am Ende doch machtlos war gegen die deutschen Visa-Bestimmungen und Assads Schergen. Der Krieg, dieser Nebel, der seit einem Jahr über Toms Leben lag, hatte sich gerade gelichtet. Nun zieht er sich zu, dicht und undurchdringlich wie eine Wand.

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Kurz hinter der Grenze war Nabil festgenommen worden. Willkürlich. Und genauso wahllos hatten ihn die syrischen Behörden nach einigen Wochen wieder freigelassen. Seither ist Nabils Tonfall verändert. Seine Nachrichten, die immer leicht und scherzhaft klangen, werden plötzlich düster.

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Tom vermutet, dass Nabil in der Haft gefoltert wurde, aber er hakt nicht nach. So wie er nie nach Nabils Motiven gefragt hat. In seiner Selbstlosigkeit ist Tom pragmatisch. Nabil ist kein politischer Aktivist, er wird nicht gesucht wie andere, die sich im syrischen Widerstand engagieren. Ihnen bei der Flucht zu helfen, wäre vielleicht dringender nötig. Aber Nabil hat eine Ausbildung, die in Deutschland angesehen ist. Er hat eine reale Chance. Um mehr als ein Leben zu retten, spürt Tom, reicht seine Kraft nicht. Aber dieses eine Leben zu schützen hat er sich zur Pflicht gemacht. "Die Welt ist so ungerecht", sagt Tom. "Und jetzt, nur dieses eine Mal, kann ich etwas ändern."

Im März 2014, knapp ein Jahr, nachdem er die Nachricht aus Homs las, lebt Tom mit seiner Freundin in Hamburg. Ihre Wohnung liegt in einem Viertel voller Cafés und Altbauten, Mütter schieben ihre Kinderwägen umher und vor den Balkonen blüht Oleander. Wenn ein Ort auf der Welt friedlich ist, dann dieser. Zur selben Zeit jährt sich der Beginn des Syrien-Krieges zum dritten Mal. 40 Prozent der Bevölkerung sind auf der Flucht.

Im März 2014 besteigen Nabil und seine Freundin das Auto eines libanesischen Bekannten. Er bringt die beiden an die Grenze, verhandelt mit den Soldaten am Checkpoint. Nabil bekommt ein Visum für sieben Tage. Mittlerweile hat er es auf zwei Monate verlängert. Mit seiner Freundin lebt er in einem Zimmer für 700 Dollar Miete. Im Libanon gibt es kaum Arbeit, der Flüchtlingsstrom aus Syrien hat die Stimmung zusätzlich angeheizt. Nabil lebt von Erspartem und hofft jeden Tag, dass das Visum aus Deutschland kommt.

Tom hat sich inzwischen für ein Masterstudium entschieden. Er will Friedens- und Konfliktforschung studieren.



Text: alexandra-rojkov - Foto: dpa, Illustrationen: Christopher Stelmach / Katharina Bitzl

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