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Katharina Nocun, ärgere dich nicht

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Jahresrückblicke haben in aller Regel das Anliegen, eine Antwort auf folgende Frage zu liefern: „Was war dieses Jahr wichtig?“ Das ist gut. Aber wir finden, dass eine andere Frage mindestens genauso wichtig ist: „Was haben wir verstanden?“. Deshalb haben wir ein digitales Magazin mit einer Liste gemacht: 100 Dinge, die wir 2013 begriffen haben. Dieser Text ist ein Auszug daraus. Das komplette digitale Magazin für Tablets und Smartphones kannst du mit der kostenlosen App der Süddeutschen Zeitung herunterladen. Du kannst es für nur 89 Cent kaufen; für Abonennten der Digitalausgabe der SZ ist das Magazin kostenlos.

Wir haben verstanden: 

100. „Man bekommt genauso wie im Boxen auch in der Politik regelmäßig eins drauf."

Über Erfolge redet jeder gerne – aber über das Scheitern? Wir wollen über Rückschläge sprechen. Und wo ginge das besser als bei einer Partie „Mensch, ärgere Dich nicht“? Sonderregel: Schmeißt die Reporterin eine Figur des Interviewten, darf sie eine unangenehme Frage stellen. Umgekehrt darf der Interviewte schamlos bewerben, was er will, wenn er es schafft, eine Figur der Reporterin zu schmeißen.   

Zum Jahresende haben wir mit Katharina Nocun gewürfelt. Denn 2013 hätte ihr Jahr werden können. Die Piraten machten sie im Wahljahr zur Geschäftsführerin, seit den Enthüllungen Edward Snowdens war Datenschutz, ihr Lieblingsthema, weit oben auf der politischen Tagesordnung. Sie war die Hoffnungsträgerin der Partei – aber die Hoffnungen erfüllten sich nicht. Die Piraten verpassten den Einzug ins Parlament deutlich. Jetzt ist Katharina Nocun wieder vor allem Studentin. Sie verkündete vor dem Parteitag, zur Wiederwahl nicht zur Verfügung zu stehen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Wir treffen uns in Düsseldorf, von dort aus fliegt sie am nächsten morgen zu einer Tagung nach Litauen, auf der sie über Jugend, Piraten und Mitmachdemokratie spricht. Der Rückzug aus der Parteispitze bedeute nicht gleichzeitig einen Rückzug aus der politischen Arbeit. Das „Mensch ärgere dich nicht-Spiel“ im Gepäck steuern wir ein asiatisches Restaurant an – Katharina hat Hunger – und beginnen unser Gespräch über das Scheitern. Katharina startet mit einer Eins, ich darf meine Spielfigur zuerst aus dem Haus rücken. Es geht los: „Katharina Nocun, ärgere Dich nicht!“  

Was war deine letzte große Niederlage?
Dass ich noch keine sechs gewürfelt habe.  

Und außerhalb des Spiels?
Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass wir den Sprung in den Bundestag schaffen, aber wie beim Boxen gibt es auch dort mehrere Runden. Ich werte das also eher als Etappenniederlage. Man bekommt genauso wie im Boxen auch in der Politik regelmäßig eins drauf. Es ist wichtig, auch mal einstecken zu können und weiterzumachen.  

Hast du eure Niederlage als Partei auch persönlich genommen?
Natürlich würde ich rückblickend einige Dinge anders machen.  

Was denn?
Ich würde versuchen, den Wahlkampf eher kampagnenmäßig zu organisieren und an einigen Stellen vielleicht mutiger zu sein. Ich glaube, wir waren zu angepasst.  

Dass du nicht wieder zur Wahl angetreten bist – war das auch eine Niederlage für dich?
Die Entscheidung hatte mit meiner Lebensplanung zu tun, damit, dass ich mein Studium abschließen will. Ich habe sie mir nicht leicht gemacht und einige Wochen überlegt. Aber ich bin ja nicht aus der Welt. Es geht weiter, denn auch außerhalb des Vorstandes kann man Dinge bewegen – vielleicht sogar mehr, weil man frei ist von Verwaltungsaufgaben.  

Planst du nach dem Ende des Studiums deine Rückkehr?
Ja, auf jeden Fall.  

Hast du keine Angst, dass deine Stelle dann schon besetzt sein könnte?
Klar, das kann passieren, aber ich stehe sehr auf inhaltliche Arbeit und fände es daher gar nicht schlimm, nicht mehr so sehr im Scheinwerferlicht zu stehen. In Talkshows sitzen hat mir nie so viel Spaß gemacht.  

Endlich schmeiße ich eine von Katharinas Figuren. Zeit für eine unangenehme Frage.  

Bist du nicht mehr angetreten, weil du keine Lust mehr auf Öffentlichkeit hattest?
(Sie schweigt lange) Es kommt darauf an. Wenn Leute mich ständig nach privaten Dingen wie meinem Familienstatus befragen, finde ich das schon unangenehm. Andererseits werde ich es auch vermissen, inhaltlich gehört zu werden – irgendwie. Schließlich ist es auch ein Privileg, seine politische Meinung nach außen tragen zu können. Aber es ist auch schön, nicht mehr so viele Bälle gleichzeitig in der Luft haben zu müssen.  

Weiter geht das Spiel. Ich bin schon ein wenig siegessicher, aber bei Katharina Nocun ist das gefährlich. Die kämpft – das hat man im Wahlkampf und bei ihrer Arbeit als Bürgerrechtlerin gesehen – auch dann, wenn sie gegen übermächtige Gegner antreten muss. Zumindest hier klappt das: Katharina würfelt und schmeißt eine gegnerische Figur.  

Wofür willst du werben, Katharina?
Für „Open Antrag“, eine Plattform, die wir als Piratenpartei neu aufgesetzt haben, mit dem Ziel, dass auch Bürger ihre Ideen im Parlament einbringen können. Wenn diese Vorschläge nicht total unvereinbar mit unseren Idealen sind, stellen die Abgeordneten sie im Landtag oder in der Kommune vor und die Bürger können auf der Plattform den Status ihres Antrags nachverfolgen.  

Wie sehr trifft dich Kritik? Als du in deinem Blog verkündet hast, dass du nicht mehr antrittst, hat ein Kommentator dir Unzuverlässigkeit vorgeworfen...
Kritik muss man differenziert betrachten. Inhaltliche Kritik kann ich super gut ab, aber anfangs haben mich persönliche Kommentare sehr verletzt. Wenn es zum Beispiel hieß: „Geh’ mal zum Friseur“. Ich finde aber, man muss auch schauen, von wem die Kritik kommt. Ich habe mich zum Beispiel immer bei meinen Freunden vergewissert, ob ich mich verändert habe. Die sind meine wichtigsten Kritiker.  

Als ich deine Kontaktdaten für das Interview bekam, habe ich mich erst nicht getraut, dir eine E-Mail zu schicken. Auf einer Skala von eins bis zehn – wie doof findest du es, dass ich einen Googlemail-Account habe?
Bei Googlemail ist es so, dass die Inhalte der Mail analysiert werden und dann dazu passend Werbung eingebaut wird. Mir persönlich wäre das zu viel. Eigentlich würde ich mir aber eine Gesellschaft wünschen, in der man sich nicht groß durch AGBs lesen muss, um zu verstehen, was der Dienst eigentlich macht. Ich fände es wichtig, dass wir uns um die Wahl unseres Anbieters nicht so einen Kopf machen müssen, weil es gute Regeln gibt. Ich finde nicht, dass man den Leuten den schwarzen Peter zuschieben darf, indem man sagt, sie haben den falschen Anbieter ausgewählt. Oder dass der Innenminister sagt, man sei selbst schuld, wenn man Facebook nutzt. In erster Linie denke ich: Wie doof kann man als Regierung sein zu denken, dass Geheimdienste in irgendeiner Art kontrolliert werden können? Und warum macht die Regierung nichts dagegen?  

Ok, sie findet Googlemail schon ein bisschen doof, sagt es aber nicht. Sehr nett. Dafür greift sie jetzt an. Und überholt meine Männlein eines nach dem anderen. Als wäre das nicht schlimm genug, schmeißt sie ein zweites Mal und darf wieder etwas bewerben. Diesmal wählt sie einen Kollegen aus dem Norden:  

Ein Abgeordneter der Piratenfraktion Schleswig-Holstein, Patrick Breyer, hat freiwillig mehrere zehntausend Euro seiner Zulagen an das Land zurückgezahlt. An den Schuldentilgungsfonds. Er meint, dass die Zulagen, die er bekommt, vollkommen überhöht sind und dass gleichzeitig bei allen möglichen staatlichen Ausgaben für Kindergärten und ähnliches gespart wird.  

Welche dieser Gruppen findet du am schlimmsten: Leute, die andere überwachen, Politiker, die nichts dagegen unternehmen, oder Menschen, die sagen, sie hätten sowieso nichts zu verbergen?
Am schlimmsten finde ich, wenn sich politische Entscheidungsträger aus der Verantwortung stehlen. Aber auch die Leute tragen Verantwortung, wenn sie eine Partei wählen, die für Überwachung ist. Leute, die sagen, das sei eine übertriebene Angst, machen mich nicht wütend, ich versuche eher zu erklären, wie ich zu meiner Position gekommen bin. Es ist ja meistens so, dass die Leute sich überhaupt nicht vorstellen können, was mit Technik alles möglich ist. Ich bin in einem Haushalt von ITlern aufgewachsen. Ich weiß, wie Programme funktionieren, und ich weiß, dass man aus jedem Datensatz alles herausziehen kann. Viele andere Leute können das nicht glauben, sich nicht vorstellen, was da in Zukunft kommt. Die halten das für Science-Fiction, aber irgendwann haben wir Kaffeemaschinen mit IP-Adressen. Da muss man Bildungsarbeit leisten und erklären: Was kann Technik und was bedeutet das für die Gesellschaft – sowohl an Vorteilen, als auch an Gefahren.  

Von einem starken Rückstand hat Katharina so weit aufgeholt, dass sie nun alle ihre Figuren vor dem Haus versammelt hat. Sie hat einen langen Atem. Das wird ihr nützen, wenn sie zurück in die Politik kehrt. „Ich sehe die Piraten als langfristiges Projekt“, sagt sie. Auch die Reporter-Figuren sind nun alle im Haus, bis auf die letzte. Ein Kopf an Kopf-Rennen. Wer würfelt zuerst eine eins? Drei, vier, drei, eins. Katharina gewinnt.

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