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Ein Fußballturnier im Westflügel

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Beim "Festival of Independents" im Haus der Kunst kommen zum ersten Mal die verschiedensten urbanen Szenen Münchens unter einem Dach zusammen. Von 15. November bis 1. Dezember gibt es neben einer Ausstellung viele Konzerte, Seminare und sogar Boxkämpfe und ein Fußballturnier, bei dem unter anderem die Kollegen vom SZ-Magazin antreten. Ein Interview mit der Kuratorin Anna Schneider über Unabhängigkeit, das Urbane und die Frage: Wer gestaltet die Stadt?
 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


jetzt.de München: Frau Schneider, in der Ankündigung des Festivals steht, Ziel der Veranstaltung sei ein "besseres Verständnis des Urbanen als Verständnis des Zeitgenössischen". Was heißt das?
Anna Schneider: Es gibt Statistiken, die sagen, dass zum jetzigen Zeitpunkt mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Kontexten leben. Das war in den Siebzigerjahren noch anders. Da lautete die Vision der Wissenschaft noch: Es wird eine grüne Bewegung geben. Alle wollten raus aus den Städten, aufs Land. Tatsächlich aber ist eine deutliche Verstädterung eingetreten und dieser Trend hält an. Uns interessiert also die Stadt als der Lebensraum, in dem die meisten Menschen überhaupt leben – auf sehr engem Raum und in einer gewaltigen Vielfalt, sowohl was Alter und ökonomische Potenz als auch kulturelle Herkunft und geistige Orientierung angeht. Die müssen sich alle ständig auf etwas Gemeinsames einigen. Und da ist es natürlich interessant, mal hinzugucken, wie das denn von den Einzelnen verhandelt wird. Was für Ideen und Visionen entstehen da, wo die Menschen selbst gestalten, wo eben nicht Staat oder Stadt alles strukturiert wie beim Straßen- oder U-Bahn-Bau?
 
Man denkt ja oft genau das Gegenteil: Dass in einer Zeit, in der Landlust-Magazine Millionenauflagen haben, doch bald wieder mehr Landbewegung als Stadtbewegung stattfindet.
Klar, die Sehnsucht nach der Natur ist da und vielleicht mieten sich auch immer mehr Leute Ferienhäuser auf dem Land. Aber so richtig dauerhaft da zu wohnen, das funktioniert oft nicht mehr. Einerseits wegen der Jobs und andererseits, weil wir alle nicht mehr so genügsam und eindimensional in unserem Konsumverhalten sind. Wir wollen an einem Tag ins Kino gehen, am nächsten in die Oper, in den Club, in den Biergarten. München hat ja noch Glück, die Stadt hat beides, sie ist zwar die am dichtesten besiedelte Stadt Deutschlands, aber davon merkt man nichts, weil es so viel Natur gibt. Hier ist ja im Gegensatz zu Paris oder New York kaum etwas von der Hektik einer Großstadt zu spüren. Aber selbst dort merkt man allmählich, dass die Leute sich immer mehr Natur in die Stadt holen. In New York wurden die High Lines, die Hochbahntrassen, begrünt und ganze Plätze werden zu Fußgängerzonen umgewandelt. Auch da gibt’s also eher den Versuch, kleine Naturräume in die Stadt zu holen, statt aufs Land zu ziehen.
 
Wer hatte die Idee zu dem Festival?
Okwui Enwezors (Direktor des Hauses der Kunst; Anm. d. Red.) Wunsch war es, ein interdisziplinäres, wiederkehrendes Format für das Haus der Kunst zu schaffen, das alle zwei Jahre mit einem neuen geografischen Fokus stattfindet, sich dabei aber immer mit der Stadt als Lebensraum auseinandersetzt. Es ist ihm grundsätzlich wichtig, mit neuen und unterschiedlichen Formaten zu experimentieren und an die Gäste die Einladung auszusprechen, hier nicht nur eine halbe Stunde durch eine Ausstellung zu laufen, sondern auch mal in anderer Form Zeit im Museum zu verbringen. Ein Teil des Festivals besteht deshalb aus Seminaren, in denen man dann auch wirklich selber aktiv werden und gemeinsam diskutieren kann.
 
Was genau bedeutet denn der etwas inflationär gebrauchte Begriff "Independent" – zumal im Haus der Kunst?
Eine sehr schwierige Frage, denn man kann das tatsächlich nicht so trennscharf definieren. Der Begriff Independent kommt ja eher aus dem Film- oder Musikbereich. Da sind die Independent-Sachen zwar immer eher eigenfinanzierte, aber schon durchaus auch mal international bekanntere Werke, die auf großen Festivals laufen und relativ viel Geld kosten. Sie spielen aber im Vergleich zur Massen-Hollywood-Produktion immer noch eine untergeordnetere Rolle und wollen eine eigene Vision gegen einen größeren Trend durchsetzen. Für uns heißt der Begriff so etwas Ähnliches: Nicht die Größe eines Projekts, sondern die Bemühung eines Kollektivs oder eines Einzelnen, das eigene Anliegen mit relativ begrenzten Mitteln durchzusetzen, steht im Vordergrund. Man kann die marktwirtschaftliche Perspektive nie ganz wegdenken. Denn das ist ja ein Hauptthema der freien Szene: ein Projekt auf die Beine zu bekommen und dann damit auch zu überleben. Das ist ein zentrales Anliegen des Festivals – zu zeigen, wie Menschen innerhalb all der Zwänge und Asymmetrien unserer Gegenwart einen Weg finden, das zu machen, was ihnen vorschwebt.
   
Die Independent-Szene Münchens wird bei diesem Festival nicht ausschließlich jung, ausschließlich hip oder ausschließlich öko gedacht. Zum ersten Mal kommen stattdessen beinahe alle zusammen: auch Sportler, Musiker und ältere Münchner.
Mir war die Bandbreite sehr wichtig. Monokulturen finde ich langweilig. Sie entsprechen ja auch nicht der Realität. Wenn man hier rausgeht auf die Straße, gibt’s nicht nur das Eine. Die Verflechtungen sind nicht immer sichtbar, aber sie sind da. Ein junges, in Deutschland produzierendes Modekollektiv wie A Kind Of Guise zieht zum Beispiel genau in die Ladenräume der alten Basisbuchhandlung, deren Besitzerin Ingrid Scherf ja auch in unserem Programm auftaucht. Die hat mit einem großen Idealismus und über Jahrzehnte hinweg eine großartige Buchhandlung geführt. Dass da nicht der 25. Coffeeshop eingezogen ist, sondern ein junges Projekt, das zwar durchaus kommerziell funktioniert, sich aber trotzdem aus einem kollektiven Gedanken heraus gegründet hat, macht doch Mut. Oder das Marionettentheater Das kleine Spiel, das nur einige Straßen weiter seit mehr als 50 Jahren seine Arbeit macht und es bis heute schafft, ohne Eintrittspreise und auf ehrenamtlicher Basis zu überleben. Da geht am Ende der Vorstellung der Spendenhut rum, das ist ja regelrecht anachronistisch in einer Zeit, in der sonst alles über dieses Bezahlmoment funktioniert.
 
Was haben Sie während der Arbeit an diesem Projekt über die Stadt gelernt?
Dass man das Klischee, München habe keine interessante freie Szene und hier passiere nichts Bedeutendes, ablegen sollte. Ich glaube, dass wir es mit unserem Programm hinbekommen haben, die große Vielfalt der Stadt auf begrenztem Raum und in einer begrenzten Zeitspanne sehr ausführlich abzubilden. Auch Menschen, die München sehr gut kennen, werden noch etwas Neues entdecken können.
 
Was ist eigentlich, wenn man bei mehrtägigen Seminaren nicht die Zeit hat, zu allen Terminen zu kommen? Die gehen ja zum Teil über drei, vier aufeinanderfolgende Tage.
Trotzdem anmelden, dann ist es halt so. Klar ist es schön, wenn man die ganze Zeit dabei ist, das ist aber keine Voraussetzung. Es wäre wirklich schön, wenn sich viele Leute auf die Seminare einlassen. Die Dozenten sind ja keine unbeschriebenen Blätter. Kerstin Stakemeier zum Beispiel macht etwas über Identität und Queer Politics. Sie unterrichtet sonst an der Kunstakademie, ist aber auch weit darüber hinaus bekannt und einfach wahnsinnig gut in dem, was sie tut. Oder der Politikwissenschaftler und ehemalige Punk Peter Seyferth, der ein Anarchie-Seminar halten wird. Bei dem steht immer der Wunsch im Vordergrund, die Leute zum Selbstdenken und zum Positionsbezug zu bringen. In München beschweren sich viele eher darüber, was alles fehlt. Wir wollen die Leute dazu motivieren, die Frage konstruktiv zu stellen: Wo kann ich „Nein“ sagen und wo kann ich anpacken? Wir sind ja immer in diesem Konflikt, dass wir auf der einen Seite unsere ganz individuellen Wünsche haben, auf der anderen aber auch soziale Wesen sind und uns dauernd mit dem ganzen Außenrum auseinandersetzen müssen.
 
Das Festival soll alle zwei Jahre stattfinden, immer mit einem anderen geografischen Fokus. Ist nächstes Mal also die Independent-Szene Kölns, dann Hamburgs, dann Berlins dran?
Nein, wir wollen das international angehen. Beim nächsten Mal sollen urbane afrikanische Räume im Fokus stehen – wahrscheinlich nicht nur eine Stadt, sondern zwei bis drei. Das passt auch deshalb so gut, weil in Afrika ja streng genommen alles independent ist. Da gibt es quasi überhaupt keine staatlichen Förderungen oder andere öffentliche, kulturelle Strukturen.
 
Worauf freuen Sie sich am meisten?
Auf die Konzerte. Und auf das Fußballturnier am Sonntag im Westflügel. So etwas hat es hier noch nie gegeben.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Anna Schneider ist Assistenzkuratorin von Okwui Enwezor, Direktor des Haus der Kunst, bei dem sie in San Francisco auch studiert hat. Vorher arbeitete die gebürtige Münchnerin beim Modellprojekt Plattform 3 und in der Villa Stuck.

Text: mercedes-lauenstein - Fotos: Nils Schwarz, Edward Beierle, Hagen Keller, What You See Is What You Get, Simon Gehrke, Inga Kerber, Kathrin Krotthenthaler, Jörg Koopmann, 100 Black Dolphins

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